SPIEGEL ONLINE - 23. Februar 2004, 11:37 URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,287598,00.html
EU-Beitritt der Türkei Schröder honoriert Ankaras Bemühungen
Solche Worte hört Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gern: Die Türkei, so Bundeskanzler Schröder bei seinem Besuch in Ankara, könne sich in Sachen EU-Beitritt auf Deutschland verlassen. Das Land sei mit seinem Reformprozess auf einem guten Weg, lobte Schröder seinen Gastgeber.
Ankara - Wenn die EU-Kommission den Reformprozess in der Türkei positiv bewerte, werde sich die Bundesregierung für eine sofortige Aufnahme von Beitrittsverhandlungen einsetzen, sagte Schröder nach einem Gespräch mit Erdogan in der türkischen Hauptstadt Ankara. Erdogan habe auch die Möglichkeit angesprochen, dass Deutschland dem überwiegend muslimischen Land bei der Umsetzung von Reformen behilflich sein könnte. Dazu sei Deutschland auch bereit.
"Ich glaube, dass die Türkei mit ihrem Reformprozess auf einem guten Weg ist", sagte Schröder. Das neue Denken, das sich mit der Regierung Erdogan verbinde, sollte helfen, das "alte Denken" in Teilen der türkischen Verwaltung zu überwinden. Damit schaffe das Land die Voraussetzungen, um der EU-Kommission ein positives Urteil zu Entwicklung und Qualifikation als künftiges EU-Mitglied zu ermöglichen.
Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei nannte der Kanzler "absolut ausbaufähig". Er glaube, dass die wirtschaftliche Dynamik in der Türkei mit dem Signal der Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen zunehmen werde. Davon könnten beide Länder im Rahmen ihrer Zusammenarbeit profitieren. Auf die Frage, ob die Türkei auf deutsche Unterstützung zählen könne, wenn die EU-Kommission im Dezember über Beitrittsverhandlungen entscheide, versicherte Schröder: "Die Türkei kann sich darauf verlassen."
"Es wird immer noch gefoltert"
Der stellvertretende SPD-Fraktionschef Gernot Erler rechnet schon fest damit, dass die Europäische Union der Türkei im Dezember einen Termin für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nennen wird. Es gebe einen breiten Konsens in der EU, dass es eine positive Antwort an die Türkei geben sollte, sagte Erler heute im Inforadio Berlin-Brandenburg. Die Kommission müsse "entweder sagen, ja, wir empfehlen den Verhandlungsbeginn dann und dann, oder sie muss sagen, nein", ergänzte Erler. Eine dritte Möglichkeit gebe es "jedenfalls in der europäischen Politik nicht."
Erler wies damit den Vorstoß der CDU-Chefin Angela Merkel zurück, die der Türkei bei ihrem Bewsuch vor einer Woche eine "privilegierte Partnerschaft" vorgeschlagen hatte. "Das ist keine europäische Perspektive, keine europäische Strategie", betonte der SPD-Politiker. Auch Erdogan hatte den Plan strikt zurückgewiesen.
Die SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün hält einen Verhandlungstermin mit der Türkei über eine Aufnahme in die EU auch für ein innenpolitisches Signal. Wenn der Türkei kein solches Datum genannt wird, sei dies für die in Deutschland lebenden Türken ein "Zeichen von Ausgrenzung und Nicht-Gewollt-Sein", sagte Akgün heute im Deutschlandfunk. Die Islambeauftragte der SPD-Fraktion befürchtet, dass die in Deutschland lebenden Türken "sich noch mehr zurückziehen". Als Innenpolitikerin habe sie aber ein "vitales Interesse", dass die Menschen meinen, sie seien in Deutschland angekommen.
Die Aufnahme von Verhandlungen über einen EU-Beitritt entscheide sich letztlich an der Frage, "ob die Reformen auch in der Praxis umgesetzt werden und wie schnell sie umgesetzt werden", erläuterte Akgün. Zwar sage Erdogan, dass es gegenüber der Folter "null Toleranz" gebe, jedoch werde "trotzdem immer noch gefoltert". Ebenso gebe es Probleme bei der Behandlung von Minderheiten, speziell den Kurden.
Dem türkischen Ministerpräsidenten sprach Akgün den Ehrgeiz zu, zeigen zu wollen, dass "Islam und Demokratie kompatibel" seien. Eine Demokratisierung der Türkei könne große Auswirkungen auf den Nahen Osten haben, sagte die SPD-Abgeordnete. So verfolge Israel den Weg der Türkei mit großem Interesse, weil es sich davon einen größeren Friedensprozess im Nahen Osten verspreche.
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