GRÜNE ZUM EU-BEITRITT DER TÜRKEI - "Das Thema wurde uns aufgezwungen" Von Ulrike Putz
Zehn Wochen ist es her, da verordnete Außenminister Fischer seinen Grünen beim Dresdner Parteitag den EU-Beitritt der Türkei als zentrales Thema für den Europa-Wahlkampf. Seitdem herrscht Funkstille. Ein Besuch bei der grünen Basis in Kreuzberg zeigt: Eine Herzensangelegenheit aller Grünen ist der Türkei-Beitritt nicht.
Berlin - Es regnet an diesem Abend in der Oranienstraße im Herzen des türkischen Berlin. Plakate für "Turkish Tunes"-Clubnächte werfen nasse Blasen. Von der Miniatur-Bosporus-Brücke, die den "Berber Salonu Kücük Istanbul" schmückt, tropft es. Während in der "Baby-Welt" Kopftuchträgerinnen kurz vor Ladenschluss Spielzeug für die Rentenzahler von morgen kaufen, eilen nasse Menschen durch die Toreinfahrt zu einem Café im Hinterhaus. Im "Familiengarten" haben sich 40 der rund 600 Kreuzberger Grünen versammelt, um Delegierte zu wählen. Kreuzberg ist für die Berliner Grünen mitgliederstärkster Bezirk, "der grüner Musterbezirk schlechthin", wie Dietmar Lingemann sagt, der Sprecher der Landesarbeitgemeinschaft der Grünen.
Kreuzberg ist so türkisch wie es grün ist. "Spannungen zwischen den Bewohnergruppen - Alternativen und Zuwanderer - gibt es kaum", behauptet Lingemann. Wo also, wenn nicht hier müsste sich die grüne Parteibasis für einen EU-Beitritt der Türkei begeistern? Wer, wenn nicht die Kreuzberger müssten sich der "dumpfen Stammtischmobilisierung" der Union in Sachen Beitritt entgegenstemmen, so wie es Außenminister Fischer auf dem Parteitag im Dezember gefordert hatte?
Der Auslöser des Fischers-Ausbruchs war die Ankündigung der Union, die EU-Wahl mit einer Kampagne gegen den Türkei-Beitritt zu bestreiten. Joschka Fischer wetterte dagegen: "Wir müssen die Tür für die Türkei offenlassen." Die grüne Basis klatschte. "Die Grünen dürfen sich in der Debatte um die Türkei nicht wegducken", forderte Fischer. Die grüne Basis stimmte dafür. Fast einstimmig wollte sie die Beitrittsbestrebungen der Türkei unterstützen. Seitdem sind zehn Wochen vergangen. Zehn Wochen, in denen das Thema EU-Beitritt der bei den Grünen nicht stattfand. "Bei Fischer war der Wunsch der Vater des Gedanken", sagt Christian Ströbele. Der Bundestags-Abgeordnete, der in Kreuzberg das einzige grüne Direktmandat holte, ist heute etwas spät dran. "Da ist der Außenpolitiker mit ihm durchgegangen", sagt er. Persönlich befürwortet Ströbele den EU-Beitritt der Türkei, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind. "Das Thema ist uns von der Union aufgezwungen worden", sagt auch Dietmar Lingemann. "Es ist nicht genuin unser Thema." Könnte es nicht auch sein, dass viele Grüne wenig begeistert sind von der Idee, dass die südlichen Nachbarn der EU künftig der Irak und Syrien sein könnten? Dass sie fürchten, die türkischen Enklaven in Deutschland könnten weiter wachsen, wenn sich über kurz oder lang türkische Inhaber roter EU-Pässe dort frei niederlassen können?
Vor Ängsten solcher Art schützt auch kein grünes Parteibuch. "Ich bin gegen den Beitritt", sagt Renate, während drinnen die Wahlzettel ausgezählt werden. Die Menschenrechte, die Folterungen, die Frauenrechte seien Gründe, die dagegen sprächen. "Aber vor allem ist es nun mal nicht Europa", sagt sie. "Ich gebe es nicht gern zu, aber es hat mit dem Islam zu tun."
Dass es mit der Multi-Kulti-Seeligkeit auch bei den Grünen nicht mehr weit her ist, merkt man in Kreuzberg und Neukölln besonders. War man früher stolz auf die kosmopolitischen Straßenzüge, setzt die grüne Klientel heute alle Hebel in Bewegung, um ihre Kinder nicht in den Problemstadtteilen auf die Schule schicken zu müssen. "Das Problem kenne ich gut", brummt Ströbele. "Da wird sich dann offiziell umgemeldet, damit die Kinder woanders zur Schule gehen können."
"Ich bin von Natur aus für die Sache!" Der einzige, bei dem heute Abend Herzblut fließt, wenn er über die Türkei spricht, ist Özcan Mutlu. "Wir müssen was tun", hat der bildungspolitische Sprecher der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus erkannt. "Mich ärgert es, dass wir in Sachen Türkei bislang nur auf die Union reagiert haben - und nur mit einem Parteitagsentschluss." Dass soll sich ändern. "Ab dem Frühling wird die Türkei unser Hauptthema." Er und die grüne Parteichefin Angelika Beer würden dann mit einer Delegation in die Türkei reisen und vor Ort die Reformen begutachten.
Auf die Frage, ob die Grünen denn wirklich wie ein Mensch hinter dem EU-Beitritt stünden, wiegelt er ab. Umfragen, wie viele Grünen-Anhänger die Türkei beitreten sehen wollen, hätte die Partei nicht nötig. Für die Grünen sei Europa kein Christenclub, sagt Mutlu - und zitiert dann doch eine Umfrage: "Als die Wähler gefragt wurden, was sie von dem Beitritt halten, waren 70 Prozent der Grünen-Wähler dafür." Macht dreißig Prozent dagegen.
URL http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,285071,00.html
Aldy
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