DEBATTE
Es gibt Schlimmeres als George W.
Zwei Wochen nach der Wahl legt der wieder gewählte US-Präsident die Fundamente für seine zweite Amtszeit. Der in Arizona lebende deutsch-amerikanische Schriftsteller Gundolf S. Freyermuth schreibt, warum ihn der neue alte Präsident bestimmt nicht in die Emigration treibt und rät den Europäern, sich endlich mit George W. Bush abzufinden.
| REUTERSBush: Nachrichten aus einem Paralleluniversum | Snowflake - Neulich war Veteranen-Tag. Viele hier in dem kleinen Ort im Nordwesten Arizonas haben Verwandte in der Armee. Gleich mehrere Mütter und Väter von Klassenkameraden meines siebenjährigen Sohns George sind im Irak oder in Afghanistan stationiert. Die Kinder gingen also mit ihrer Lehrerin auf dem Friedhof und haben Veteranen-Gräber besucht. George entdeckte dabei die letzte Ruhestätte eines anderen George Freyermuth, der vor einem halben Jahrhundert starb. Der Junge war sehr stolz auf diesen unbekannten, vermutlich sehr, sehr fernen Verwandten, denn er ist immer sehr stolz, wenn er von einem irgendwie berühmten oder zumindest berüchtigten Namensvetter hört. Von George Washington etwa, dem Vater der Nation. Oder von George W., dem gegenwärtigen Bewohner des Weißen Hauses.
Von letzterem freilich, der kindlichen Begeisterung des George F. für George W., hörten wiederum meine linken deutschen und liberalen amerikanischen Freunde in den vergangenen Wochen gar nicht gern. Was in den Tagen nach der Wahl Anrufbeantworter und Mailbox füllte und - schlimmer noch - in der Presse zu lesen war, bewies, dass der politische Kampf am Ende ziemlich hysterische Züge angenommen hatte. Amerikaner wie Europäer ergingen sich in apokalyptischen Visionen vom Untergang der Demokratie, wenn nicht Zivilisation.
Ein deutscher Freund erkundigte sich, ob ich mich schon zur Betstunde angemeldet hätte. Ein anderer fragte geschmackvoll, wie hier draußen in Bush-Country die Jagd auf "Neger" so laufe. Gleich mehrere Amerikaner meldeten aus Berlin, sie würden keinen kennen, der Bush gewählt habe, und auch keinen, der einen kenne, der ... Wer also? Ein besser schreibender als denkender Schriftstellerkollege verstieg sich verzweifelt dazu, Kerrys Niederlage mit dem Tod eines geliebten Verwandten gleichzusetzen.
Kanadische Journalisten erspürten verstärkte Auswanderungsneigungen der letzten freien US-Bürger. Ein deutscher Analytiker legte die Neue Welt auf die Couch und diagnostizierte ebenso altersnaseweis wie pauschaliter eine "andauernde Adoleszenskrise" bei gut 50 Millionen erwachsenen und wahlmündigen Amerikanern. Ein besonders halbgebildeter Schlaumeier verglich allen Ernstes den Wahlsieg der US-Republikaner mit dem von Republikanern und NPD in Sachsen und Brandenburg, frei nach dem Motto: Ich sprech Denglisch, und wo Republikaner draufsteht, müssen auch Republikaner drin sein.
Den Höhepunkt des Wirrsinns erreichte freilich Gary Indiana: "In George W. Bushs Gesicht spiegelt sich die Verwahrlosung und Neidbesessenheit eines Amerikas, das durch Massenmord erschaffen wurde." Es gab Redakteure, die das druckten.
Ich las es, kniff mich und sah aus dem Fenster, in das ganz normale und wunderschöne Amerika, und dachte an unsere Freunde hier, die wohl mehrheitlich für Bush gestimmt haben dürften - zivile Menschen fragen einander nicht, man nennt das Wahlgeheimnis -, und dennoch genauso wenig Monster waren wie diejenigen, die jetzt lautstark verzweifelten: Was für verwirrte Nachrichten aus einer anderen Welt, einem medial erzeugten, aber real wirksamen Paralleluniversum, das mit der Wirklichkeit, in der ich hier lebe, aber auch gar nichts zu tun hatte.
Doch nirgends, weder in der besonnenen New York Times noch im Spiegel, waren Klarsicht oder wenigstens Distanz zu finden. Die alte Ostküstendame befürchtete, mit dem Sieg George W.s ende nichts weniger als die abendländische Aufklärung. Und in SPIEGEL ONLINE, oft ein Hort amüsanten Widerspruchsgeists, fiel eine junge Kalifornierin mit tragender Stimme in den hyperrealistischen Klagechor ein und verriet fantasierte Gründe: "Warum ich nicht nach Hause gehen kann"!
Nun, sie könnte, jederzeit. Soviel ich weiß, ist die Bevölkerung unseres großen und großartigen Nachbarstaats weder nach Hawaii geflohen noch in rote Republikanerstaaten deportiert worden. Mein Gott, ist man selbst als Atheist versucht auszurufen: Tote Verwandte, Auswanderung nach Kanada, politisches Asyl in Deutschland, der Präsident mit dem Massenmordgesicht? Woher rühren diese Verfolgungswahngebilde?
Zum einen sind sie sicher mediengemacht. An Presse und Fernsehen ist bekanntlich wenig Dokumentarisches. Im Falle von Clinton ließ dessen rechtsanwältige Doppelzüngigkeit ihn erheblich gerissener erscheinen, als er tatsächlich war. Und im Falle von Bush lässt ihn seine tolpatschige Zungenbrecherei erheblich ungebildeter erscheinen, als er ist. Das aber natürlich erklärt nicht die Wut, den Hass, den sie, beide ungewöhnlichen Präsidenten, jeweils bei ihren politischen Gegnern weckten.
Diese Emotionen scheinen mir zum zweiten mit dem rapiden, technologisch getriebenen Wandel von Alltag und Arbeit zusammenzuhängen. Digitalisierung und Globalisierung verändern die Welt. Die regionalen und nationalen Werte, denen wir anhängen, scheinen jeden Tag mehr in Frage gestellt. Die blinde fundamentalistische Wut zeugt davon - der Religiösen in Orient wie Okzident und nun auch der säkularen Liberalen in Neuer wie Alter Welt. Niederlagen lassen sich kaum mehr hinnehmen, alles scheint, weil man es immer weniger versteht, schicksalhaft. Selbst diese ganze normale Wahl. Politik wird zur Obsession, zur säkularen Religion.
Allmählich freilich ist genug Zeit für Trauerarbeit verstrichen, um mit gefassterem Gemüt über die Fehler und Gründe nachzudenken, denen die Demokraten ihre Niederlage verdanken. Vielleicht kann ich dazu aus der privilegierten Perspektive eines Doppelstaatsbürgers beitragen, der Amerika zugleich von außen wie innen kennt. Wenn diejenigen, die bislang immer auch meine politischen Freund waren, jedenfalls den nächsten Präsidenten stellen wollen - wie ich es mir ja durchaus wünsche, schon um die historische Balance im allgemeinen und im obersten Gerichtshof im besonderen halbwegs zu erhalten -, dann sollten sie jetzt gleich von dem Wahn Abschied nehmen, dass nur sie die alleinseligmachende Wahrheit gepachtet haben. Weniger Überheblichkeit gegenüber der anderen Hälfte der Bevölkerung, weniger Isolierung von ihr sind die conditio sine qua non. Keinen zu kennen, der einen kennt, der vielleicht Bush gewählt hat, ist wahrlich nichts, worauf man als Demokrat - in jedem Sinne - stolz sein sollte.
Und was meine deutschen Landsleute und ihren Seelenfrieden angeht: Amerika ist anders, ziemlich anders als Europa an der Ostküste, ganz anders im Milden Westen. Seid froh darüber. Ewig haben wir alle doch gejammert, dass die Welt immer uniformer werde: Überall dieselben Reklameschilder, dieselben Armanis, dieselben BMWs, McDonalds. Warum also sollte Amerika nun so werden, wie Europa sowieso schon ist? Hieße das nicht im logischen Kehrschluss, dass auch Europa wie Amerika wäre? Und wer will das?
Ich jedenfalls nicht. Die Sonne senkt sich heute so faszinierend neonblutorangenrot gen Canyon, wie sie es halt nur in Arizona kann. Ich bin hierhin gezogen, weil das Leben und die Leute anders sind. Genauso, wie ich immer wieder nach Deutschland komme, weil es dort anders ist und nicht, um mit schlechtem Denglisch und imitierten US-Shows konfrontiert zu werden. Also, lernt wieder deutsch zu sprechen und findet euch damit ab, dass Amerika anders ist. Das ist mein bescheidener Rat. Oder in George F.s deutsch-amerikanischen Worten: Don't mix die Sprachen!
Im Augenblick aber scheinen wir alle, Amerikaner wie Deutsche, immerhin gemeinsam zu haben, dass wir irgendwie Veteranen sind. Die meisten freilich - inklusive meines alten und neuen Präsidenten - nur metaphorisch: nicht wirklich kriegsverletzt, nur erschöpft und verkatert. Überlebende einer erbittert geführten Wahlkampforgie. George W. verkörperte dabei für die Wähler, die gute Hälfte von ihnen, die unbegrenzten Möglichkeiten - schließlich war er, das schwarze Schaf der Familie, unglaublich aber wahr, zum Präsidenten aufgestiegen. George im Glück. Kerry hingegen erinnerte nur an die sozialdemokratische Umverteilung post festum, das unverdiente Privileg - schließlich hatte er, der einst langhaarige Rebell, ebenso unglaublich und wahr, ins Millionen-Dollar-Ketchup-Imperium eingeheiratet. John im Speck.
Die Symbole waren damit ganz auf George W.s Seite. Nicht zuletzt führte er den besseren, weil umarmenden Wahlkampf und gewann daher zu Recht. Man muss schon ziemlich verbohrt sein, um das nicht zu erkennen: dass die Demokraten an ihrem eigenen Hochmut, einer Selbstisolierung und aggressiven Ausgrenzung Andersdenkender gescheitert sind.
Das Leben aber geht weiter - und produziert im Irak und in Afghanistan neben viel zu vielen Toten eine neue Generation von Veteranen. Freiheit freilich, die nicht verteidigt wird, geht verloren. Wie viele Texte werden in Zukunft nicht mehr geschrieben, wie viele Filme nicht mehr gedreht in Amsterdam und Umgebung, weil der eine Autor und der andere Filmemacher es sich zweimal überlegt? Europa beginnt, besser unfreiwillig, als gar nicht, die Fragilität der Freiheit und die Aggressivität ihrer Feinde zu erkennen.
Politische Freiheit jedoch heißt auch die - zumindest momentane - Freiheit von der Politik. Etwas, das die Verbisseneren unter meinen linken und liberalen Freunden lernen sollten, um mehrheitsfähiger zu werden. Politik ist nicht alles. Es gibt ein Glück jenseits von ihr. Mein Sohn George zum Beispiel spricht kaum mehr von George W. Er hat einen neuen Namensbruder entdeckt, im Supermarkt natürlich, dem kulturellen Zentrum dieses Städtchens: St. George, einen Chardonnay der eher volkstümlichen, haarscharf trinkbaren Sorte. Den hat er seinen Eltern in den Warenkorb gelegt. Warum diesen St. George also jetzt nicht auf der Terrasse genießen, bis wir morgen oder übermorgen was Besseres finden?
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