NOZ 29.1.2025
Friedrich Merz will die illegale Migration stoppen. Der Verfassungsrechtler Winfried Kluth bewertet die Vorschläge und sagt, was rechtlich geht - und was nicht.
Winfried Kluth ist Professor für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er war Richter am Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt in Dessau-Roßlau und ist seit 2023 Mitglied im Sachverständigenrat für Integration und Migration. Wir haben mit ihm über die Pläne von CDU-Chef Friedrich Merz für eine Migrationswende gesprochen. Sind sie rechtlich umsetzbar?
Herr Kluth, hat Olaf Scholz recht, wenn er sagt, die Vorschläge von Friedrich Merz für eine Migrationswende verstoßen gegen das Grundgesetz und gegen EU-Recht?
Fangen wir mit dem Grundgesetz an. Es gewährleistet nur Asyl, wenn man Deutschland über eine Außengrenze, also via Flugzeug betritt. Aber es regelt auch, dass EU- und völkerrechtliche Vorschriften Vorrang haben. Hier kommt die Europäische Union ins Spiel: Unbefristete Grenzschließungen ohne Anlass sind nicht zulässig. Es gilt eine besondere Rechtfertigungspflicht. Und Zurückweisungen sind nicht erlaubt, wenn jemand Asyl beantragt, selbst dann nicht, wenn Personen keine Papiere vorweisen können. Also ja, Olaf Scholz hat Recht.
Verhindert also EU-Recht, dass Deutschland sich vor der illegalen Einreise von Gefährdern schützt?
Da im Normalfall ja keine Grenzkontrollen stattfinden, ist das so. Auch potenzielle spätere Gefährder können demnach einreisen, aber sie können in Deutschland einer Strafverfolgung unterzogen werden, wenn entsprechende Straftaten begangen werden. Anschließend können sie grundsätzlich in ihren Heimatstaat zurückgeführt werden, wenn ihnen dort keine Todesstrafe oder Folter droht.
Warum funktioniert das nicht?
Es funktioniert in vielen, aber zu wenigen Fällen. Das große Problem der Rückführungen ist die Klärung der Identität, die dafür Voraussetzung ist. Damit sie gelingt, müssen mit den Herkunftsländern Abkommen über die Rückführung getroffen werden.
Wäre es möglich, Zurückweisungen an der Grenze mit einer Notlage zu erklären?
In einer Notlage haben die Staaten weitergehende Befugnisse. Die Voraussetzungen zur Erklärung einer Notlage sind sehr hoch. Das würde voraussetzen, dass die öffentliche Sicherheit sehr grundlegend gefährdet ist, der Staat in seiner Funktion gefährdet ist. Das trifft auf Deutschland derzeit aber nicht zu. Wir haben auch nicht die Situation, dass das Handeln des Staates grundsätzlich durch die Aufnahme von Flüchtlingen gefährdet ist.
Sind die Pläne von Friedrich Merz also gar nicht umsetzbar?
Die zentrale Frage, um die es schon 2015/16 ging, ist diese: Darf man Personen zurückweisen, die Schutz suchen, für die aber eigentlich ein anderer Staat zuständig ist? Der Europäische Gerichtshof und deutsche Gerichte haben ganz klar entschieden, dass das nicht zulässig ist. Da kann man anderer Meinung sein, muss sich dann aber darüber klar sein, dass EU-Kommission und EuGH dem widersprechen werden. Angela Merkel und die aktuelle Bundesregierung haben die Entscheidung des EuGH als bindend akzeptiert. Aber man kann natürlich das Prozessrisiko eingehen und hoffen, dass der EuGH dann seinen Standpunkt ändert. Wenn man das macht, untergräbt man allerdings die Autorität des EuGH.
Die Union argumentiert, dass Dublin-Verfahren, wonach der Staat zuständig ist, in den ein Flüchtling einreist, funktioniere nicht mehr?
Das Problem der Dublin-Verordnung ist doch zunächst, dass es keinen Verteilmechanismus gibt und vor allem die Staaten belastet werden, in denen die meisten Flüchtlinge ankommen. Das ist für Deutschland vorteilhaft, wird aber durch die Weiterreise der Flüchtlinge nach Deutschland in das Gegenteil verkehrt. Eigentlich soll die GEAS-Reform auf EU-Ebene ja bewirken, dass sich alle wieder an die Regeln halten. Wenn sich jetzt alle nicht mehr an die Regeln halten, wird das zur Gefahr für die EU insgesamt.
Aber gefährdet es die EU nicht auch in ihrer Akzeptanz, wenn sie Deutschland zu einer Migrationspolitik zwingt, die es überfordert?
Die Herausforderung wird in erster Linie durch die Kriege und Bürgerkriege verursacht, die die Menschen zur Flucht veranlasst. Und überfordert sind zunächst die Nachbarstaaten. Die Europäische Union hat sich zur Solidarität bekannt, aber das nicht effektiv umgesetzt. Was die Union jetzt daraus macht, ist ein gewagtes Spiel. Die Ankündigung von Zurückweisungen an den Grenzen könnte den Effekt haben, dass er die anderen Länder ebenfalls zum Handeln provoziert. Es besteht die Möglichkeit, dass sie sich dann wieder an Regeln halten. Es kann aber auch das Gegenteil eintreten und eine Abwärtsspirale der Abkehr von den vereinbarten Regeln ausgelöst werden. Beides halte ich für möglich.
Das Bundesinnenministerium hat gerade bekanntgegeben, dass es 2024 bereits 40.000 Zurückweisungen an den deutschen Grenzen gab. Sind diese dann nicht auch rechtswidrig?
Man kann Personen zurückweisen, die keine ordnungsgemäßen Papiere haben aber keinen internationalen Schutz beantragen. Hier gelten die allgemeinen Einreisebedingungen. Für Personen, die internationalen Schutz beantragen, gilt das aber so nicht. Sie müssen einreisen können und haben einen Anspruch auf Prüfung ihres Verfahrens. Wenn die Grenzbeamten denken, dass ein anderer EU-Mitgliedstaat zuständig ist, muss nach der Rechtsprechung des EuGH auch die Einreise erlaubt und eine Rücküberführung in Abstimmung mit dem zuständigen Staat organisiert werden. Dysfunktional ist das System deshalb, weil der Rückführungsmechanismus oft nicht funktioniert. Einige Staaten nehmen keine Flüchtlinge mehr zurück oder antworten gar nicht mehr auf entsprechende Anfragen. Oder sie stellen, wie z.B. Bulgarien, abenteuerliche Bedingungen für die Rückführung. Das kann man Obstruktion nennen. Wenn Deutschland unter Verweis auf dieses Verhalten selbst das geltende Recht missachtet, muss es damit rechnen, dass die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäische Gerichtshof anstrengt und es zu einer Verurteilung kommt.
Warum schreitet man nicht gegen Länder ein, die sich Rückführungen verweigern?
Friedrich Merz ist ja noch nicht Bundeskanzler. Als Regierungschef hätte er aber in der Tat die Möglichkeit, ein solches Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH zu beantragen, da in der EU die Möglichkeit der gegenseitigen Beaufsichtigung der Mitgliedstaaten vorgesehen ist. Das ist allerdings in der Praxis bislang kaum praktiziert worden.
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