„Vollständiger Atomausstieg bis 2020“In einer radikalen Wende seiner Energiepolitik hat der Spitzenverband der Deutschen Energiewirtschaft sich für einen Ausstieg aus der Kernenergie bis 2020 ausgesprochen. Das sagte Hauptgeschäftsführerin Hildegard Müller im F.A.Z.-Interview. 09. April 2011 Frau Müller, hat dem BDEW das Atom-Moratorium die Sprache verschlagen? Hildegard Müller, Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft Nein. Aber es ist doch klar, dass die schreckliche Reaktorkatastrophe in Fukushima zu einer Neubewertung der Kernenergie führt. Auch bei uns. Das geht seriös nicht von heute auf morgen. Wir haben uns am Freitag auf eine klare Position geeinigt. Nämlich?Die im BDEW organisierte Energiewirtschaft spricht sich aus für den schnellen und vollständigen Ausstieg aus der Kernenergienutzung bei Sicherstellung von Versorgungssicherheit, Klimaschutz und Bezahlbarkeit bis 2020, spätestens aber entsprechend den Vorgaben des Ausstiegsbeschlusses von 2002, also 2022 bis 2023. Die jetzt abgeschalteten acht Anlagen bleiben dauerhaft vom Netz?Die Politik will jetzt prüfen. Dabei hat die Sicherheit oberste Priorität. Da sind sich Kraftwerksbetreiber und Politik einig. Am Ende entscheidet das die Politik. Hatten Sie nicht argumentiert, ohne Kernenergie würden die Versorgung unsicher, die Preise steigen, das Erreichen der Klimaschutzziele gefährdet?Wenn es keinen Ad-hoc-Ausstieg gibt, steht und stand die Versorgungssicherheit nie in Frage. Das schaffen unsere Unternehmen. Preise und Klimaschutz bleiben wichtige Argumente. Politik muss jetzt für einen echten, tragfähigen Energiekonsens sorgen. Nicht nur in Kommissionen, sondern im Bundestag. Wir brauchen den Konsens, um eine höhere Akzeptanz für das zu bekommen, was notwendig ist: Netzausbau, neue Windkraft- und Biomasseanlagen. Aber auch den Neubau effizienter Gas- und Kohlekraftwerke. Die Kapazitäten reichen bei abgeschalteten Kernkraftwerken aus, die maximale Nachfrage zu decken. Wozu dann neue, schmutzige Kohlekraftwerke bauen?Es geht nicht um Kapazitäten, sondern um gesicherte Leistung und Reserven. Es ist nicht so, dass wir uns in Ruhe zurücklehnen können. Niemand kann ein Interesse daran haben, zukünftig überwiegend Strom zu importieren. Daher sind neue Gas- und Kohlekraftwerke in Ergänzung der erneuerbaren Energien für lange Zeit in Deutschland unverzichtbar. Der Wirtschaftsminister will die Raumplanung für die Stromnetze beim Bund ansiedeln. Ist das eine gute Idee?Das wäre sehr sinnvoll. Die Lage ist vergleichbar mit der nach der deutschen Einheit. Wir brauchen eine direkte Bürgerbeteiligung, aber auch kürzere Verfahrenswege, die nicht an Ländergrenzen enden. Für eine Energiewende müssen alle gesellschaftlichen Gruppen an einen Tisch. Wir werden uns dabei mit dem Sachverstand der Branche einbringen. Bislang sind Sie nicht gefragt worden?Bisher wurden die Interessen, die von den verschiedenen Akteuren der Branche vorgetragen wurden, insgesamt nicht ausreichend gewürdigt. Jetzt melden wir uns als Branche deutlich zu Wort. Das ist vor dem Treffen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten am Freitag politisch genau der richtige Zeitpunkt. Was sagen die vier Energiekonzerne mit Kernkraftwerken zum neuen Ökokurs ihres Spitzenverbandes?Wir haben das nach intensiver Debatte gemeinsam beschlossen. Natürlich werden einzelne Unternehmen diesen Beschluss für sich gesondert bewerten. Das ist legitim, stellt aber den Branchenkompromiss insgesamt nicht in Frage. Sollten die Konzerne für ihre entwerteten Investitionen entschädigt oder die Brennstoffsteuer gestrichen werden?Darüber will ich hier nicht spekulieren. Klar ist: Der Umbau der Energieversorgung hat erhebliche finanzielle Auswirkungen auf die gesamte Volkswirtschaft, auf jeden Bürger. Die Fragen stellte Andreas Mihm.
Text: F.A.Z. Bildmaterial: dpa
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