S P D: Panik auf der Titanic
Reform-Chaos und Irak-Krise drohen die SPD in den Untergang zu treiben. Fronten zwischen linken Ideologen und Reformern brechen wieder auf. Kanzler Schröder läuft Gefahr, zwischen Clement und Lafontaine zerrieben zu werden
von Siegmar Schelling und Heimo Schwilk
Da stand Wolfgang Clement am Montag, die Lotsenmütze flott aufs Haupt gedrückt, um sich geschart zwei Dutzend Shanty-Sänger in weißen Takelhemden. Mit leicht gequälter Miene verstärkte der Minister den Debstedter Seemannschor. Volltönend erklang ?Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord, in den Kesseln da faulte das Wasser, und jeden Tag ging einer über Bord."
Wahlkampf in Langen im Kreis Wesermünde im nördlichen Niedersachsen. Für SPD-Granden aus Berlin sind Auftritte in Gabriels von Schröder geerbtem Reich derzeit kein Vergnügen, dazu bedarf es nicht einmal der drastischen Symbolik des Madagaskar-Shantys.
Der alte Dampfer SPD ist in schweres Wasser geraten und droht außen- wie innenpolitisch am Eisberg hausgemachter Probleme zu zerschellen. Demoskopen liefern zum nahenden Untergang das katastrophale Zahlenwerk: Bundesweit hat Schröders Regierung in der politischen Stimmung ein neues Rekordtief erreicht. Laut jüngstem Politbarometer war die Unzufriedenheit mit der Partei seit Beginn dieser ZDF-Erhebung vor 25 Jahren noch nie so hoch wie heute. Die SPD kommt gerade noch auf 25 Prozent Zustimmung, die Union auf sensationelle 56 Prozent. Und wenn diesen Sonntag Bundestagswahlen wären, würde die SPD nur noch 31 Prozent der Stimmen für sich verbuchen, acht Prozent weniger als am Wahltag im vergangenen September.
Panik auf der Titanic.
Außenpolitisch steuert der Kanzler das Staatschiff uneinsichtig auf die Klippen einer deutschen Isolation in Europa und gegenüber den USA. Die öffentliche Solidaritätsbekundung acht europäischer Staats- und Regierungschefs für die USA wurde im Kanzleramt missmutig damit kommentiert, man dürfe nicht den Fehler machen, ihr ?mehr Bedeutung zuzumessen als ihr zukommt". Der Weg an den europäischen Katzentisch wird eigensinnig weiter asphaltiert.
Und innenpolitisch reißt der Eisberg der Arbeitslosigkeit stetig größere Löcher in die Etats, die mit immer neuen Steuererhöhungen abgedichtet werden sollen. Und während der Kapitän des in Seenot geratenen früheren Luxusliners ?MS Deutschland" aus dem fein geschnittenen Beiboot des Kanzleramts mit Hilfe immer neuer Papiere den allerneuesten Reformkurs verkündet, steigt wahlkämpfenden SPD-Genossen das Wasser in Niedersachsen und Hessen bis zum Hals. Sie müssen befürchten, am heutigen Wahltag für den Berliner Schlingerkurs abgestraft zu werden.
Was hat Schröders 1. Offizier Wolfgang Clement, als ?Superminister" mit viel Vorschusslorbeer bedacht, nicht alles seit seinem Amtsantritt aus der Seemannsmütze gezaubert! Einführung von ?Sonderwirtschaftszonen", ?Experimentierklauseln" für Landesregierungen, ?Masterplan zum Bürokratieabbau", ?Mittelstandsoffensive", Liberalisierung der Handwerksordnung, Einschränkung des Kündigungsschutzes, Lockerung des Ladenschlusses, ?Beschäftigungszwang" für junge Menschen. Doch jetzt muss er einräumen, dass das Wirtschaftswachstum 2003 höchstens ein Prozent erreichen, die Arbeitslosigkeit dauerhaft über vier Millionen liegen wird - trotz aller Ideen-Feuerwerke keine Besserung in Sicht. Um im maritimen Bild zu bleiben: Mit einem rasch einberufenen ?Arbeitskreis Leck AG" kann die Fahrt in den Untergang nicht aufgehalten werden.
Das weiß auch der um sein eigenes Überleben kämpfende niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel. Als Schröder-Zögling hat er es naturgemäß besonders schwer, nicht in den Abwärtsstrudel gerissen zu werden. So stellt er sich mit dem Megafon auf die Brücke und dröhnt dem Kanzler und dessen Sparminister Hans Eichel die Ohren voll: Mit Mini-Reförmchen und Sparkurs sei der Dampfer nicht flottzumachen.
Bitter verkündete Gabriel bei Sabine Christiansen im Dialog mit Hessens CDU-Regierungschef Roland Koch: ?Die Leute sind natürlich sauer über das, was nach der Bundestagswahl in der Bundesregierung an Wirrwarr entstanden ist und auch über viele Beschlüsse, die kommentiert werden." Die Öffentlichkeit werde wieder ?hinter die Fichte geführt". Trocken kommentierte Koch: ?Sie gehören offenbar gar nicht mehr zur SPD." Und zu den vielen Vorschlägen von der Absage an die Dienstwagensteuer bis zur Einführung der Vermögensteuer, die Gabriel gemacht hatte, um sich in letzter Minute gegen den eigenen Kanzler zu stellen, fiel Koch ein farbiges Bild ein: ?Sie blasen jeden Tag einen schönen roten Luftballon auf, dann kommt jeweils Ihr Bundeskanzler mit der Nadel und - blipp, blipp, blipp - sind alle Ballons wieder geplatzt."
Zum Problem für Kapitän Schröder wird zunehmend der frühere ?Hans im Glück". Statt Dampf zu machen im Kessel, lässt der glücklose Finanzminister die Kohlen rationieren.
Ein Riss zieht sich quer durch die Partei. Alte ideologische Fronten brechen wieder auf zwischen den Lordsiegelbewahrern der reinen linken Verteilungslehre und jenen bis ins bürgerliche Spektrum ausgreifenden Reformern, die einst die neue Mitte auf ihre Banner schrieben. Die überraschende Ankündigung von Schröders Intimfeind Oskar Lafontaine bei einem Neujahrsempfang in Saarbrücken, sich der Landes-SPD an der Seite des aufmüpfigen Heiko Maas als Wahlkämpfer zur Verfügung zu stellen, hat diesen Riss sichtbar gemacht. Es waren nämlich vor allem Gewerkschafter, die Lafontaine zujubelten: ?Oskar, wir brauchen dich!" Manche Genossen hatten vor Rührung Tränen in den Augen.
Auch wenn sie sich beim Comeback-Versuch des früheren SPD-Finanzministers deutlich zurückhielten, um den ohnehin gereizten Kanzler nicht unnötig zu provozieren, so ist den Zwickels und Sommers doch anzumerken, wie sehr sie sich durch die ?neoliberalen" Ankündigungen von Clement düpiert fühlen. Da kommt der Linken ein Oskar als neue Galionsfigur gerade recht, wenn er unter Deck schon einmal die Internationale anstimmen lässt.
Dabei hatte sich in den Wochen vor der letzten Bundestagswahl doch alles wieder so schön zusammengefügt: Der von den Arbeitgebern enttäuschte Schröder war mit wehenden Fahnen ins Gewerkschaftslager zurückgestürmt - und die Unterstützung hat sich ausgezahlt. Denn gerade in der wahlentscheidenden Irak-Frage gelang es den Arbeitnehmervertretern, die Basis ?für den Frieden" zu mobilisieren. Nach dem Wahlsieg wurde der Kredit in großen Raten zurückgezahlt. Die Koalitionsverhandlungen, so musste es dem grünen Koalitionspartner bisweilen erscheinen, wurden aus den Chefetagen der Gewerkschaftszentralen mitgesteuert. In der Folge raspelte man des Kanzlers Hartz-Konzept bis zur Unkenntlichkeit klein, brachte die Vermögensteuer ins Gespräch, attackierte den EU-Stabilitätspakt, realisierte mit Hilfe von Verdi die schnelle Lohnangleichung im öffentlichen Dienst zwischen Ost und West und ließ mit der Heraufsetzung der Beitragsbemessungsgrenze bei der Rente vor allem die ?besser Verdienenden" bluten.
Nun reißt Kapitän Schröder das Ruder wieder herum. Kurz nach Beendigung der Reform-Kakofonie überraschte er die Gewerkschaften mit einer Steueramnestie für die Reichen, und angesichts der drohenden Niederlagen bei den anstehenden Landtagswahlen kungelt Clement jetzt ganz offen mit der Union. Im Schulterschluss mit dem CDU-Wirtschaftsexperten Friedrich Merz will er seine Reformvorhaben rasch durch den Bundesrat pauken.
Und Gerhard Schröder, gefangen in den Fallstricken seines außenpolitischen Friedensmanagements, graugesichtig und miesepetrig, definiert die Neue Mitte seiner Politik dieser Tage noch einmal neu: Es ist der Platz zwischen Baum und Borke, Partei und Gewerkschaft, Aufbruch und Beharrung, der ihm endgültig das Image des Wende- und Stimmungskanzlers einbringt. Der Kanzler droht zwischen Lafontaine und Clement zerrieben zu werden.
Wie dünn sein Nervenkostüm geworden ist, bewies er diese Woche, als er erstmals die alte Linie verließ, kein Wort über seinen früheren Minister und Vorgänger als SPD-Chef verlauten zu lassen. Er wertete die Absicht von Lafontaine, eventuell in die aktive Politik zurückzukehren, als ?lokales Ereignis". Die Comeback-Pläne seien ?zu vernachlässigen". Seinen SPD-Generalsekretär Olaf Scholz ließ er bellen: ?Niemand wartet auf Oskar Lafontaine. Nachdem er seinen Parteivorsitz weggeschmissen hat, gebietet das unsere Selbstachtung." Und Franz Müntefering tönte: ?Wenn Lafontaine der SPD wirklich einen Dienst erweisen will, gibt es dazu eine einzige Möglichkeit: Er muss ganz einfach den Mund halten."
An der SPD-Basis hat der ideologische Schlingerkurs längst für Polarisierung gesorgt. Die Genossen sind verbittert. Allein in Hessen-Süd haben seit der Bundestagswahl 800 SPD-Mitglieder die Partei verlassen, und im brandenburgischen Perleberg warf Bürgermeister Dietmar Zigan dem Kanzler sein SPD-Parteibuch vor die Füße. Zigan ist von Berlin enttäuscht, möchte sich künftig nicht mehr ?den Mund verbiegen". Immer mehr Vorwürfe müsse er sich von empörten Bürgern anhören, von ?Wortbruch" und ?Sparwahn" sei die Rede.
Wortbruch beklagen inzwischen auch die Gewerkschaften, allen voran IG-Metall-Chef Klaus Zwickel, der vor dem Wahlwochenende seinen Sozialdemokraten noch einmal kräftig die Leviten las. Trotz der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat dürfe die SPD sich nicht von der CDU abhängig machen, forderte er, sie müsse sich vielmehr in ihren Positionen ?vor den Arbeitnehmern profilieren". Die IG Metall werde sich in die gesellschaftspolitische Debatte ?kräftig einmischen", denn die ?neoliberalen Krebsmetastasen" hätten jetzt auch Schröder und Teile der SPD erreicht.
Ob Zwickel dabei an Clements Gesangsdarbietung im hohen Norden gedacht hat? ?Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord..." Wer nach Meinung des Gewerkschaftsführers über Bord zu gehen hat, der Kanzler oder sein Superminister, lässt sich unschwer beantworten: beide. Der ideale Kandidat für die Gewerkschaften ist noch immer der Mann aus dem Saarland. Nur ihm trauen sie zu, der Panik auf der Titanic Herr zu werden.
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