Weinbau in der Cite
In einer französischen Kleinstadt wütete vor 15 Jahren der Mob. Heute gibt es dort Spielplätze, Sozialprojekte und Überwachungskameras. Die Menschen fühlen sich sicher.
Von Michaela Wiegel
Sartrouville. Autos brannten, es flogen Steine, Boule-Kugeln und Molotow-Cocktails. Begonnen hatte die nächtliche urbane Guerrilla mit dem Tod des 18 Jahre alten Djemel Chettou. Er war "einer von ihnen", ein Paßfranzose, der sich nirgendwo zugehörig fühlte, und ganz bestimmt nicht der heruntergekommenen Hochhaussiedlung "Cite des Indes", die als Anschrift in seinen Papieren stand.
Ein Wachmann des großen Supermarkts gleich neben den Wohntürmen hatte Djemel erschossen, vielleicht hatte er etwas gestohlen. So genau wußte niemand, warum die Schüsse gefallen waren. Aber für die Jungen aus der Cite war das Unglück Djemels Grund genug, sich immer von neuem stets nach Sonnenuntergang mit der Polizei anzulegen und Verwüstung und Angst in ihrer Siedlung zu säen.
Der Haß auf die Ordnungsmacht und der Wunsch nach Randale waren so groß, daß sie in Banden zündelnd durch die Stadt zogen, hinein in die "besseren Viertel", und auf ihrem Weg auch mal ein Wohnhaus in Brand steckten. "Ich habe jede Nacht mit einem Gewehr in meinem Geschäft geschlafen, aus Angst, die Randalierer würden kommen und alles kaputt- machen", erinnert sich der Besitzer einer Fahrschule im Stadtzentrum. Das war im Winter 1991, und ganz Frankreich entdeckte in Fernsehreportagen Sartrouville als Schauplatz ungeahnter Gewalt nur knapp zehn Kilometer vor den Toren von Paris.
Fast fünfzehn Jahre später hat sich vieles verändert. Einzig die Wohntürme in der "Cite des Indes" sind noch stille Zeugen der Ausschreitungen. Den windigen, zentralen Betonplatz, der als Schlachtfeld der Guerrilla diente, gibt es nicht mehr. Heute stehen dort Bäume, und ein kleiner Marktplatz wurde angelegt, wo zweimal in der Woche Händler Obst, Gemüse und andere Waren feilbieten. Es gibt Spielplätze und Bänke, die Parkplätze sind durch Mäuerchen abgetrennt, die Müllcontainer in kleinen Backsteinhäuschen versteckt. Bald werden drei der zwanzigstöckigen Hochhäuser abgerissen, ein letzter Schritt in dem großangelegten Sanierungsprogramm, das Sartrouville zwar nicht in eine großbürgerliche Stadt verwandelt, aber ein sicheres, besonders von Familien geschätztes Wohnumfeld geschaffen hat.
Der Bürgermeister der Stadt, der 42 Jahre alte Pierre Fond von der rechtsbürgerlichen Präsidentenpartei UMP, hat sich vor allem als urbaner Gestalter verstanden, der städtebauliche Maßnahmen geschickt mit soziokulturellen Angeboten und verschärften Sicherheitsvorkehrungen verbunden hat. Weinberge neben Sozialbauten, was wie ein billiger Werbespruch klingt, ist in Sartrouville bereits Wirklichkeit. Auf der Plateau genannten Anhöhe, unweit der "Cite des Indes", zieren Weinstöcke die Grünflächen, die einst als wilde Müllhalde dienten. Schulkinder kommen im Herbst zur Weinernte. Sie lernen ganz nebenbei, wie Wein hergestellt wird. Im Rathaus werden stolz die Flaschen gezeigt, die jedes Jahr aus eigener Produktion entstehen, wobei der Weißwein weit besser sein soll als der Rote. Kein hoher Zaun schützt dabei die Weinreben, sondern einzig der Respekt der Bewohner vor dem Projekt.
Der Erfolg hat die Stadtverwaltung ermuntert, einen für pädagogische Zwecke genutzten Bauernhof nach Sartrouville zu locken: die "Ferme de Gally" liegt nur ein paar Schritte von den Sozialbauten entfernt. Da auch die Kinder aus den anderen Wohnvierteln mit ihren Lehrern den Bauernhof besuchen, findet dort "soziale Durchmischung" spontan statt. "Unser Ziel ist es, eine Ghettobildung auszuschließen", sagt Raynald Godart, der stellvertretende Bürgermeister, der für die Stadtplanung und die Sicherheit zuständig ist.
Wo es die Einkommensverhältnisse zulassen, werden Sozialbauwohnungen verkauft - denn Besitz schafft Verantwortung. Im engen Schulterschluß mit den Eigentumsgesellschaften des sozialen Wohnungsbaus wird überall renoviert und saniert. Doch manche in den sechziger und siebziger Jahren schnell gebauten Wohntürme sind entweder architektonisch so problematisch oder von so schlechter Qualität, daß oftmals der Abriß die bessere Lösung ist. "Wir bauen dann nicht am selben Ort neu, sondern anderswo. So schaffen wir es, die soziale Durchmischung zu verbessern", sagt Godart.
Das fragile Netz der Sozialbeziehungen in einer von hoher Arbeitslosigkeit und kultureller Identitätssuche geprägten Siedlung hat die Stadtverwaltung durch die nachdrückliche Förderung von Vereinen und Interessengruppen zu stärken gesucht. Die "Stadtviertelhäuser", von der Stadt finanzierte Zentren, werden von den Vereinen tatsächlich genutzt. Sie sind zu Orten des Austausches und der Solidarität geworden. Abdelkrim Medjaoui von einer muslimischen Vereinigung lobt den "fairen Umgang" der Stadtverwaltung mit den Muslimen. "Wir werden nicht diskriminiert, sondern als wichtige Gesprächspartner anerkannt", sagt er.
Anreize und Chancen, aber auch Härte gegenüber Straftätern gehen in Sartrouville Hand in Hand. So hat Bürgermeister Fond bei seinem Amtsantritt 1995 sofort begonnen, die kommunale Polizei personell aufzustocken und einen 24-Stunden-Dienst an allen sieben Tagen der Woche einzuführen. Über die mit den Unruhen im Norden von Paris aufgeflammte Debatte über die "bürgernahe Polizei" kann der Sicherheitsbeauftragte von Sartrouville deshalb nur schmunzeln. "Wir praktizieren das seit Jahr und Tag. Prävention und Repression schließen sich ja nicht aus, sie gehören zusammen", sagt Godart.
Die kommunalen Polizeistreifen arbeiten eng mit der Nationalpolizei zusammen. Als Vorreiter gilt Sartrouville inzwischen auch bei der Videoüberwachung. Auf allen öffentlichen Plätzen, in der "Cite des Indes" wie vor dem Theater oder dem Bahnhof, wird gefilmt. Die diensthabenden Beamten in der Polizeizentrale können auf ihren 28 Bildschirmen ständig das Geschehen in weiten Teilen der Stadt verfolgen. Die Investitionskosten waren zwar hoch, aber die Ergebnisse geben dem Bürgermeister recht.
Die Kriminalität etwa am Bahnhof ist rapide gesunken. "Vorher hatten wir jeden Tag drei Diebstahlsmeldungen. Jetzt haben wir eine im Monat", sagt der Polizeichef. Zugleich hat das Rathaus in Zusammenarbeit mit einer privaten Überwachungsgesellschaft eine umfassende Fernüberwachung für alle Schulen und öffentlichen Einrichtungen eingerichtet, bei der Alarmmeldungen direkt in der Polizeizentrale eingehen. Geschäftsinhaber und andere interessierte Privatpersonen können das Überwachungsangebot - gegen Bezahlung - ebenfalls nutzen.
Die Sicherheitsvorkehrungen haben in Sartrouville die Kriminalitätsrate sinken und das Sicherheitsempfinden steigen lassen. "Das muß schon lange her sein", sagen mehrere Mütter an einer Grundschule, nach den Ausschreitungen befragt. "Wir fühlen uns hier sehr sicher." Sartrouvilles zentrale Lage, die Nähe zur Autobahn A86 und eine direkte Vorortbahnverbindung - in 15 Minuten nach Paris - haben der Stadt bei ihrem Wandel zum Besseren ebenso geholfen wie der boomende Immobilienmarkt. Immer mehr private Immobilienfirmen bauen in der Stadt, was neue, wohlhabende Familien bringt.
Angesichts der steigenden Zahl von "schwierigen Zonen" im Umkreis der französischen Metropolen zeigt das Beispiel Sartrouvilles, daß der Teufelskreis aus Unsicherheit, Wegzug der Bessergestellten und weiterer Verarmung durchbrochen werden kann.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 06.11.2005, Nr. 44 / Seite 12
MfG kiiwii
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