Polizeipsychologe Sieber spricht von "einsatztechnischer Dummheit" Florian Rötzer 04.06.2007 Sieber macht für die Ausschreitungen in Rostock auch die aufgeheizte Stimmung im Vorfeld verantwortlich, Ex-Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Ernst Mahrenholz geht von einer Aufhebung des Demo-Verbots um Heiligendamm aus Die Verurteilung der gewalttätigen Demonstranten in Rostock ist fast einhellig. Dass die zur Randale Entschlossenen nur auf einen Anlass gewartet haben, um ihr Abenteuerspiel in der wirklichen Welt aufzuführen, als würden verletzte Polizisten, brennende Autos oder kaputte Fensterscheiben mehr bewirken als Bilder, die durch die Medien gehen, und Reaktionen, die nachträglich Warnungen und Sicherheitsmaßnahmen bestätigen und verstärken. So kann nun Bundesinnenminister Schäuble mit Beifall rechnen, wenn er sagt: "Das sind schlimme Verbrecher. Gegen die muss mit aller Härte vorgegangen werden." Allerdings wird nicht nur von Veranstaltern und Beteiligten der Demonstration Kritik am Vorgehen der Polizei geübt. Münchens Polizeipsychologe Sieber spricht gar von einer "einsatztechnischen Dummheit". Wie man auch immer die Ursache einschätzen mag, die zu den Ausschreitungen zwischen einer Gruppe von Demonstranten und den Polizisten geführt hat, so ist auf jeden Fall klar, dass einige der Demonstrationsteilnehmer gewalttätige Auseinandersetzungen suchten und sie, wie die autonome antifa rechtfertigen, die von Rostock als "Erfolg" spricht: Die Distanzierungen der Demoleitung und von attac seien in diesem Zusammenhang bezeichnend: 'Wer so am Rockzipfel des staatlichen Gewaltmonopols hängt wie diese NGOs, der kann es natürlich nicht gut finden, wenn Menschen ihre Ablehnung dieser unmenschlichen Verhältnisse so deutlich artikulieren wie gestern in Rostock.' Der Versuch, die Proteste durch Integration und Staatstreue mundtot zu machen, 'sind im Steinhagel vor die Wand gefahren.' 'Selbstverständlich' distanziere sich das UmsGanze-Bündnis nicht von den militanten Aktionen. Mitteilung der autonomen antifa In einem Interview mit dem Deutschlandfunk hat der Münchner Polizeipsychologe Georg Sieber, der die sogenannte Münchner Linie zur Deeskalation ("Vorrang psychologischer Mittel vor Anwendung unmittelbarer Gewalt") mit entwickelte, versucht zu erklären, warum er der Meinung ist, dass auch Politik und Polizei zur Eskalation schon im Vorfeld beigetragen haben. Man habe die Großdemonstration mehr als jemals zuvor "vorgeheizt und vorgesichert": Eine Eskalation bestand ja bereits, lange bevor das richtig anfing dort in Rostock. Was jeder sehen konnte, dass Polizeibeamte doch in sehr ungewöhnlicher Ausrüstung antraten, die konnte man glatt mit Marines im Irak verwechseln auf den ersten Blick. Und die Polizei reagierte sehr schnell auf Sachbeschädigung mit Körperverletzung. Und ich denke, da ist irgendwo ein Damm gebrochen, der jetzt natürlich nur sehr schwer wieder zu flicken ist. Nach Sieber sei die Demonstration lange Zeit in der "Stimmung einer Loveparade" gewesen. Erst als der Polizeiwagen beschädigt wurde, sei es richtig losgegangen. Dabei habe die Polizei aber eine "unverhältnismäßige Reaktion" gezeigt und auch danach mit ihrem Einsatz zur Eskalation beigetragen. Das jetzt von Politikern vorgetragene Lob für einen an sich fehlgelaufenen Einsatz kritisiert der Polizeipsycholge, der auch der Meinung ist, dass die Polizei nicht "unbedingt Herr der Lage sein" müsse, da eine Demonstration den Demonstranten gehöre. Taktisch sei das ausschließliche Vorgehen in Stoßtrupps ein Fehler gewesen, zudem habe man auch niemand aus dem Schwarzen Block festgenommen oder identifiziert: Tatsache ist, dass die Polizei in diesem Falle fast ausschließlich im geschlossenen Einsatz vorging, was nun ungefähr seit den 70er Jahren einfach als einsatztechnische Dummheit bezeichnet wird. Interessant ist auch Siebers Einschätzung des abgesicherten G8-Tagungsorts und plädiert letztlich für den Abbau des Sperrzauns, womit er sich vermutlich auch nicht nur Freunde machen wird: Wir haben jetzt in Heiligendamm gewissermaßen eine überirdische Bunkeranlage. Das ist so ein sicherheitstechnisches Paradoxon. Durch die prominente Lage ist es natürlich sehr schwer, einen solchen Konferenzort gegen militärische Angriffe aus der Luft oder seeseitig oder auch vom Land zu schützen. Überdies gibt es eine Menge Schwachstellen. Also man müsste jetzt mal irgendwann sagen, wir machen diesen Zaun und diese ganzen demonstrativen Aggressionssymbole, die lassen wir mal ganz schnell wieder verschwinden. Aber das wird wahrscheinlich gar nicht möglich sein. Ich denke, dass die Situation wirklich verfahren ist. Heute hat das Sternmarsch-Bündnis einen Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht gegen die Allgemeinverfügung der Polizei eingereicht, die das Oberverwaltungsgericht Greifswald am Donnerstag wieder in Kraft gesetzt hat. "Wir wollen, dass unser Protest in Sicht- und Hörweite der AdressatInnen stattfindet: den Delegierten der G8!", erklärte Susanne Spemberg vom Sternmarsch-Bündnis. "Zumindest eine Demonstration mit 600 TeilnehmerInnen sollte bis zum Kempinski-Hotel demonstrieren können." Noch steht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über das Demonstrationsverbot um Heiligendamm aus. Trotz der Randale und den vielen Verletzten in Rostock geht Ernst Mahrenholz, der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, in einem Interview weiter davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht das Verbot nach der bisherigen Rechtsprechung wieder aufheben könnte. Danach dürfe das Ziel einer Demonstration nach dem Grundrecht der Ort der kritisierten Veranstaltung sein: Die Sicherheitslage in Deutschland ist, wie in jedem anderen Land, bei einem G8-Gipfel wesentlich größer geworden. Das versteht sich. Aber die Frage ist, ob diese Sicherheitslage die Demonstrationsfreiheit praktisch zum Erliegen bringen kann, denn sechs oder zehn Kilometer - ich habe da unterschiedliche Angaben - entfernt zu demonstrieren, ist natürlich nicht das Gleiche, sondern es müssen diejenigen, die es angeht, wohl schon ein bisschen davon mitkriegen, ob das nun Sicht- und Hörweite ist oder nicht, das kann ich nicht so genau beurteilen. Es hängt auch von den örtlichen Gegebenheiten ab. Aber jedenfalls - sie müssen nahe am Ort des Geschehens sein. Das ist die Konsequenz, die das Gericht bisher gezogen hat und ich kann nur hoffen, dass dieses Gericht dabei bleibt. Artikel-URL: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/25/25433/1.html ----------- oliweleid
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