Von Katharina Wied Knapp neun Monate nachdem die massive Versuchung von Umwelt und Mitarbeitern der Firma Envio in Dortmund durch polychlorierte Biphenyle (PCB) an die Öffentlichkeit gedrungen ist, haben die „Envio Recycling GmbH & Co. KG“ und die „Envio Geschäftsführungs GmbH“ am 23. Oktober wegen drohender Zahlungsunfähigkeit Insolvenz angemeldet. Schon im August hatte die Firma dem größten Teil ihrer Festangestellten gekündigt, die damit neben den physischen und psychischen Problemen wegen ihrer massiven PCB-Verseuchung auch noch der Belastung durch fehlendes Einkommen und Arbeitslosigkeit ausgesetzt waren. Mit der Insolvenz dürfte nun so gut wie fest stehen, dass auch die Öffentlichkeit auf den Kosten sitzen bleibt, die durch die von Envio verursachten Schäden entstanden sind. Denn die Zugriffsmöglichkeiten auf Gewinne oder Rücklagen, die durch skrupellose Geschäftspraktiken aus Envio herausgesogen wurden, entziehen sich – jedenfalls im Rahmen des angemeldeten Insolvenzverfahrens – dem Zugriff der Gläubiger, zu denen auch die geschädigten Arbeiter gehören. Dafür hatten die Geschäftsführer von Envio, Dirk Neupert und Christoph Haaks, schon im Vorfeld gesorgt. Im Gegensatz zu einer typischen Kommanditgesellschaft nämlich gibt es bei der Rechtsform einer „GmbH & Co KG“, die sie für das Recycling-Unternehmen gewählt hatten, keine persönlich haftenden Gesellschafter. Die Haftung ist stattdessen auf das „Geschäftsvermögen“ des so genannten „Komplementärs“ beschränkt – in diesem Fall auf die „Envio Geschäftsführungs GmbH“, und damit auf lächerliche 25.000 Euro. Die Folgekosten dürften aber die Zehn-Millionen-Euro-Grenze locker übersteigen. So wurden mittlerweile auf dem Envio-Gelände schon zwei Reinigungsgänge durchgeführt, für die zum Teil die Stadt Dortmund in Vorleistung getreten ist, ohne dass dabei die gewünschten Erfolge erzielt werden konnten: Die Messwerte liegen immer noch stark über den zulässigen Höchstwerten. Der Kostenvoranschlag über 1,8 Millionen Euro für eine neuerliche Reinigung, den sich die Bezirksregierung von der Lünener Firma Taberg erstellen ließ, wurde von dem ehemaligen PCB-Experten des Envio Vorgängers ABB, der heute in dieser Eigenschaft für die UN tätig ist, als völlig unzureichend qualifiziert. In einem Interview mit der Westfälischen Rundschau (WR) sprach er von „völlig unterbewerteten Entsorgungskosten“ und einer „realitätsfernen Einschätzung der Kontaminationstiefe“. Die WR verwies dem gegenüber auf Schätzungen internationaler Experten von bis zu sieben Millionen Euro allein für die Geländesanierung – ohne Bodenaushub, der sich aller Wahrscheinlichkeit nach als notwendig erweisen wird. Neben dem eigentlichen Envio-Gelände mussten aber auch Gebäude angrenzender Firmen entseucht werden. Und sogar die Wohnungen von Mitarbeitern, die ihre Arbeitskleidung mit nach Hause gebracht und dort gewaschen hatten, sind verseucht und müssen gereinigt werden. Dazu kommen die Behandlungskosten für diejenigen, die wegen ihrer hohen PCB-Werte an einem dauerhaften Betreuungsprogramm teilnehmen, um auftretende Folgeschäden frühzeitig erkennen und behandeln zu können. Bisher sind 200 Personen im Rahmen dieses Betreuungsprogramms erfasst. Zehn Prozent der ehemaligen Arbeiter haben sich bisher noch nicht gemeldet. Während die Betroffenen und ihre Familien sich Sorgen um ihre Gesundheit und ihre Zukunft machen und die Stadt Dortmund bzw. die Steuerzahler die Kosten für einen angemessen Umgang mit der PCB-Verseuchung zu tragen haben, bleiben für die Envio-Geschäftsführer, wenn ihr „Plan B“ mit der haftungsrechtlich wohl kalkulierten Firmenkonstruktion aufgeht, vielleicht gerade einmal ein paar unangenehme Erinnerungen zurück. Denn nicht nur finanziell machen sich die Envio-Funktionäre nun – da der Standort Dortmund „verbrannt“ ist – aus dem Staub: Für die Hauptversammlung der Aktionäre der Envio AG, die für den 30. November im Casino Hohensyburg angesetzt ist, hat man einen Antrag auf Verlegung des Firmensitzes nach Hamburg vorbereitet. Gleichzeitig ist geplant, nun eine andere Firma, die „Bebra Biogas Holding AG“, an die Börse zu bringen. Letztere soll die Envio AG ablösen, deren Aktien im Verhältnis 100:1 in solche der Bebra Biogas Holding AG umgetauscht werden können. Mit der Bebra Biogas Holding AG – so der Plan von Neupert, Haaks & Co – könnten sie sich dann ihren weiterhin aktiven, nicht zwangsweise stillgelegten Geschäftsfeldern widmen. Der Plan ist offensichtlich: ein neuer Name, ein neuer Standort und Schulden, die man per Insolvenz losgeworden ist, sollen dafür sorgen, dass man nicht mehr mit dem Envio-Skandal in Verbindung gebracht wird, damit die übrigen Firmen weiterhin mit Gewinn produzieren können. Und die Rechnung könnte sogar aufgehen. Denn die Schuld an den desaströsen Verhältnissen und der Vergiftung von Arbeitern und Anwohnern liegt nicht nur bei der Firma, sondern auch bei den völlig unzureichenden, wirtschaftsfreundlichen Verfahrensweisen der Aufsichtsbehörden, die offenbar ihre Aufgabe eher darin sehen, Widerstände und Schwierigkeiten von den Firmen fernzuhalten, als über die Einhaltung von Rechtsnormen und Produktionsvorschriften zu wachen. Die einzige Gefahr könnte den beiden Envio-Geschäftsführern noch von strafrechtlicher Seite aus drohen. Aber auch von dort wehte bisher allenfalls eine milde Brise. Genau wie zuvor die Aufsichtsbehörden von Stadt und Land wurde auch die Dortmunder Staatsanwaltschaft (StA) immer erst dann spürbar tätig, wenn strafrechtlich relevante Umstände öffentlich bekannt geworden waren. So ordnete sie beispielsweise die Beschlagnahmung von Firmenunterlagen im Mai dieses Jahres erst an, nachdem die WR zwei Tage zuvor aus internen Firmenprotokollen skandalöse Passagen zitierte hatte, die unglaubliche Zustände und zahlreiche Rechtsverletzungen bei Envio nachwiesen. Aber selbst da konnte von wirklichen „Ermittlungen“ keine Rede sein. So berichtete die WR am 28. September, dass der anwesende „leitende Staatsanwalt die Polizei bei der Durchsuchung der Geschäftsräume im Mai daran gehindert [hat], umfassend Material zu beschlagnahmen“. Die Aufsichtsbehörden, denen ja detaillierte Hinweise auf die extrem hohe Vergiftungsgefahr für die Leiharbeiter und Festangestellten vorgelegen hatten, gerieten gar nicht erst in das Blickfeld staatsanwaltlicher Ermittlungen. So hatte die Dortmunder Staatsanwaltschaft bis zum 24. September offenbar noch nicht einmal die Unterlagen der zuständigen Bezirksregierung Arnsberg gesichtet. Nachdem Envios Geschäftsbeziehungen zu hochkriminellen Elementen aus Kasachstan bekannt geworden waren, musste die Oberstaatsanwältin Ina Holznagel gegenüber der WR konstatieren, die Staatsanwaltschaft habe „keine Erkenntnisse über Lieferungen aus Kasachstan“, obwohl die Arnsberger Behörde darüber informiert war. Auch Holznagels Aussage, „Fahrlässigkeit und Sorgfaltspflichtverstöße einer Überwachungsbehörde“ seien „nicht strafbar“, erscheint fragwürdig. So war es z. B. in den 1980iger Jahren zu Ermittlungsverfahren gegen Angestellte des Landschaftsverbands Rheinland gekommen, denen „Handeln durch Unterlassen“ zur Last gelegt wurde, weil sie versäumt hatten, gegen Missstände in einem Landeskrankenhaus vorzugehen, obwohl sie dazu im Rahmen ihrer Aufsichtsfunktion und der ihnen obliegenden Fürsorgepflicht gegenüber den Patienten verpflichtet gewesen wären. Ende September nun hat die Generalstaatsanwaltschaft Hamm aufgrund der öffentlichen Kritik an der unangemessenen Vorgehensweise der Dortmunder Staatsanwaltschaft die Akten des Verfahrens angefordert, um sie – wie die WR unter der Überschrift „Vorwürfe gegen Staatsanwalt im Envio-Verfahren“ berichtete – unter „fachaufsichtlichen Gesichtspunkten“ zu prüfen. Gegebenenfalls soll das Verfahren dann einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft übergeben werden, in diesem Falle an die Abteilung für Wirtschaftskriminalität in Bochum. Wie das Verfahren dort ausgehen würde, steht allerdings ebenfalls in den Sternen. Die Abteilung hatte zwar im Februar 2008 für Schlagzeilen gesorgt, als ihre leitende Staatsanwältin Margrit Lichtinghagen im Rahmen des so genannten Liechtensteiner Verfahrens wegen Steuerhinterziehung einen Haftbefehl gegen den ehemaligen Postchef Klaus Zumwinkel beantragte und außerdem sein Privathaus durchsuchen ließ. Damit weckte sie aber prompt den Unwillen ihrer Vorgesetzten, und es dauerte gerade einmal zehn Monate, bis sie erneut Schlagzeilen machte: diesmal mit dem Wechsel zur Kölner Staatsanwaltschaft. Sie kam damit ihrer drohenden Strafversetzung zuvor, die von der Bochumer Behördenleitung seit den Vorgängen im Februar betrieben wurde
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