Alkoholismus in Russland von Prof. Dr. Werner Gumpel, Gilching
Dieser Fall hat die russische Presse alarmiert: Ein Mann fesselt seine Ehefrau vier Monate lang mit einer zwei Meter langen Kette mit dem Fuss an das Bett. Nach vier Monaten gelingt es ihr, den Ehemann zu überlisten und zur Polizei zu fliehen. Der Mann wird verhaftet. Vor dem Richter leugnet er sein Tun nicht: Seine Frau habe nicht nur regelmässig die Pension der Eheleute vertrunken, sondern auch den gesamten Haushalt in Alkohol umgesetzt. Er habe sie in ihrem Suff selbst in der Gosse suchen müssen. Wenn er sie mit einer Kette an das Bett gefesselt habe, so sei dies nur geschehen, um sie vor sich selbst zu schützen. Die Frau zeigte Verständnis: Sie bat die Richter, von einer Bestrafung des Ehemanns abzusehen.
Ein vielleicht etwas aussergewöhnlicher Fall. Der Alkoholkonsum jedoch, eines der alten Übel Russlands, wird in diesem Land immer mehr zu einem Problem, weniger für die Frauen als vor allem für die Männer. Er stellt eine echte Gefahr für die Volksgesundheit dar. Bei der letzten Volkszählung wurde klar: Die Männer im arbeitsfähigen Alter sterben in einem Masse, dass heute auf 1000 Männer bereits 1149 Frauen kommen. Der Frauenüberhang wird mit rund 10 Millionen beziffert. Ursächlich für den frühen Tod der jungen Männer ist der exzessive Alkoholismus mit den durch ihn hervorgerufenen Erkrankungen und die in betrunkenem Zustand verursachten Unfälle sowie Totschlagdelikte.
Verbunden mit dem Alkoholismus ist eine zunehmende häusliche Gewalt, deren Opfer vornehmlich Frauen und Kinder sind. Nach Schätzungen russischer Soziologen sind drei Viertel aller Frauen des Landes, also die erdrückende Mehrheit, dieser sogenannten «häuslichen Gewalt» ausgesetzt. 18 Prozent von ihnen werden regelmässig verprügelt. Sie werden nicht nur geschlagen, sondern auch gedemütigt und zur Sexualität gezwungen. Gewalt wird aber nicht nur gegen Frauen ausgeübt, sondern gegen alle Schwächeren, also auch, und das sehr häufig, gegen Kinder und alte Leute. Manchmal können sich die Betroffenen wehren. Dann kommt es nicht selten zum Totschlag, wobei oftmals auch der Quäler getötet wird, sogar vom eigenen Kind. Die Hälfte aller Frauen gibt die Schuld an der männlichen Gewalt dem Alkohol und mit ihm verbunden der Armut und der Arbeitslosigkeit unter den Männern. Dabei ist der Alkoholismus nicht auf die Schicht der Armen beschränkt. Auch unter Intellektuellen und Wirtschaftsführern regiert König Alkohol und mit ihm verbunden häusliche Gewalttätigkeit.
Die Möglichkeiten, der Gewaltanwendung zu entfliehen, sind für die Frauen gering: Wohin sollten sie auch gehen, zumal mit Kindern, wenn es keine Wohnungen gibt und die Arbeitslosigkeit gross ist? Hinzu tritt die Scham, die häuslichen Zustände öffentlich werden zu lassen.
Auch das Problem der in den Städten verwildert lebenden Kinder ist mit dem exzessiven Alkoholismus verbunden: Jedes dritte Kind hält seine Eltern für schwere Alkoholiker, fast jedes fünfte Kind hat das Elternhaus verlassen, weil es zu Hause misshandelt wurde.
Doch auch wirtschaftlicher Druck als Folge des Alkoholismus ist an der Tagesordnung, denn zur Beschaffung der benötigten Mengen Alkohol wird den Frauen das Geld für die gemeinsame Familie vorenthalten, selbst verdienenden Frauen genommen. 54 Prozent der russischen Frauen unterliegen regelmässig den verschiedenen Formen wirtschaftlicher Gewalt. Wen wundert es da, dass Russland in der Zahl der Aborte pro 1000 Frauen den zweiten Platz in der Welt einnimmt? Im Ergebnis sinken die Geburtenziffern und mit ihnen die Bevölkerungszahl. Gäbe es nicht die Zuwanderung, vor allem aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, würde die russische Bevölkerung in den nächsten 5 Jahren um 4,2 Millionen Menschen schrumpfen. Auch Präsident Putin hat sich besorgt über dieses «demographische Problem» geäussert.
Vorwiegend durch den Alkoholmissbrauch sinkt auch die durchschnittliche Lebenserwartung, und dies insbesondere bei Männern. Sie beträgt jetzt 58,8 Jahre bei den Männern und 72 Jahre bei den Frauen. Man säuft sich zu Tode, und man erschlägt sich im Suff. Im Bezirk Novgorod, in dem der Alkoholismus besonders verbreitet ist, sterben täglich 2 Männer an den Folgen des Alkoholmissbrauchs. Die Kriminalität wächst dort wegen des Alkoholismus erheblich schneller als in Russland als Ganzem. Ein Drittel aller Verbrechen (Russland: 21,1 Prozent) wird in alkoholisiertem Zustand begangen, bei den Gewaltverbrechen sind es 43 Prozent. Aber auch Unfälle aller Art sind auf die Einwirkung des Alkohols zurückzuführen. In Moskau ertranken im vergangenen Sommer innerhalb von anderthalb Monaten 138 Betrunkene beim Baden. Bei Unfällen auf den Strassen wurden im ersten Halbjahr 2002 in Russland 12323 Menschen getötet. Auch hier ist die häufigste Unfallursache der Alkohol.
Vom Alkoholismus besonders stark betroffen sind in Russland die Völker des hohen Nordens. Viele der dortigen Völker, wie Tschuktschen, Evenken und Chanten, drohen am Alkoholismus zugrunde zu gehen. «In einigen nördlichen Regionen haben Trunksucht und Alkoholismus unter den autochthonen Völkern ein kritisches Ausmass erreicht, das ganze Ethnien mit dem Aussterben bedroht,» schrieb die Zeitung «Izvestija» im Januar 2002. In diesem Zusammenhang wird von «Alkoholismus als Massenphänomen» gesprochen. Die Menschen versetzen ihre letzten Habseligkeiten, um Alkohol kaufen zu können, und trinken alles, was Alkohol enthält, bis hin zu Schuhputzmitteln. Die Sterblichkeit als Folge des Alkoholismus beläuft sich dort auf das Sechzehnfache des ohnehin nicht niedrigen russischen Durchschnitts. In den letzten 10 Jahren hat sich dort die Sterblichkeit um das Anderthalbfache erhöht. Die Lebenserwartung liegt 10 Jahre unter dem russischen Durchschnitt.
Alkoholmissbrauch ist in Russland von jeher ein Problem. In den Jahren seit dem Zusammenbruch des Kommunismus hat er jedoch an Bedeutung zugenommen und ist zu einer echten Bedrohung nicht nur der Volksgesundheit, sondern auch der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung des Landes geworden. Alle Versuche, ihn einzuschränken, sind bisher gescheitert. Gorbatschow musste sich seinerzeit als Folge seiner Bemühungen viel Spott anhören: Aus einem «Generalsekretär» der Kommunistischen Partei wurde ein «Mineralsekretär». Seine Nachfolger, einer selbst Alkoholiker, haben das Problem nicht wieder angefasst. Auch in Russland gibt es schliesslich Wahlen. Nur die Presse instrumentalisiert das Thema gelegentlich. Wenn Russland ein moderner, zivilisierter Staat werden will, wird es aber unumgänglich sein, dieser Volkskrankheit energisch Paroli zu bieten
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