Aus der FTD vom 24.2.2003 www.ftd.de/keese Kolumne: Brüder, zur Sonne, zur Freiheit! Von Christoph Keese
Die Hoffnung auf Reformfreude der Gewerkschaften ist verfrüht. Noch hat die Betonfraktion das Sagen.
Bewegen sie sich nun oder bewegen sie sich nicht? Die Gewerkschaften haben kein Konzept für die Zukunft. Nichts zeigt das deutlicher als die Debatte um den Kündigungsschutz. Zu Fragen der Arbeitsmarktreform sind die Führer der Gewerkschaften zerstritten, führen den Diskurs aber nicht offen, sondern zwingen Abweichler zurück auf Linie. Freiheit lassen sie nicht zu - weder intern noch in der Volkswirtschaft.
Vergangene Woche unternahm Verdi-Chef Frank Bsirske, Mitglied der Grünen, einen vernünftigen Vorstoß. Er zeigte Sympathie für die Idee, Arbeitnehmer bei der Einstellung wählen zu lassen, ob sie den klassischen Kündigungsschutz oder eine fest vereinbarte Abfindung im Falle einer dann leichteren Kündigung wollen. Über dieses Optionsmodell herrscht bei den Parteien inzwischen fast Konsens: Superminister Wolfgang Clement und seine Vertrauten aus SPD und Grünen haben Sympathie, streben sogar eine härtere Lösung an, die CDU/CSU-Fraktion will es, die FDP sowieso. Würde der Plan umgesetzt, könnten Jobsuchende selbst entscheiden, wie hoch sie die Hemmschwelle für ihre Einstellung legen.
Abgelehnte Vorschläge
Bsirske ging noch weiter. Er schlug vor, dass bei betriebsbedingten Kündigungen künftig mehr auf die Altersstruktur der Unternehmen geachtet wird. Bislang fliegen nach dem Sozialpunktesystem die Jungen hinaus, die Alten dürfen bleiben. Eine vernünftige Idee, die jedem einleuchtet, der die Überalterung von Firmen nach einer Kündigungswelle erlebt hat.
Doch die beiden moderaten Vorschläge überforderten die Betonfraktion des Gewerkschaftslagers. DGB-Chef Michael Sommer pfiff Bsirske zurück. "Wir denken gar nicht daran, den Schutz der Arbeitnehmer vor willkürlicher Kündigung zur Disposition zu stellen", sagte er am Freitag. Bsirske verstand den Wink der Inquisition und ruderte sofort zurück. Am Samstag, auf der Verdi-Landesbezirkskonferenz Thüringen, widerrief er mit Inbrunst: "Es kann nicht darum gehen, dass wir bereit sind, Kündigungsschutz gegen Abfindungen zu tauschen" - das exakte Gegenteil seiner eigenen, erst 48 Stunden alten Aussage.
Warum kämpft Bsirske nicht für seine Idee? Weshalb knickt er sofort ein? In Berlin zirkulieren zwei Erklärungen für sein Verhalten. Erstens sei die IG Metall mit der ungelösten Nachfolge ihres Chefs Klaus Zwickel und den Vorbereitungen für den Gewerkschaftstag in Hannover beschäftigt. Bsirske nutze das Vakuum zur eigenen Profilierung, glaube aber nicht wirklich an seine Initiativen. Zweitens ertrage er keinen persönlichen Druck. Deswegen seien auch die öffentlichen Arbeitgeber bei den Tarifverhandlungen am Ende so glimpflich davongekommen. Besonders anfällig sei er für Druck aus dem eigenen Lager.
Welche Erklärung auch zutreffen mag: Die Gewerkschaften bleiben so stur wie eh und je. Um sie herum jedoch kippt die öffentliche Meinung zu Gunsten von Reformen. 5,4 Millionen Menschen sind entweder arbeitslos oder versauern in staatlichen Förderprojekten. Diese Summe ist skandalös, sie erzürnt breite Teile der Gesellschaft. Damit sinkt die Akzeptanz von Reformgegnern, die nichts anzubieten haben als ein müdes "Weiter so!".
Reformen werden populär
Zeitungen aller Couleur schwenken auf Reformkurs: "Es gibt keine Tabus mehr auf dem Arbeitsmarkt", meint das Kölner Boulevardblatt "Express". "Deutschland hinkt hier den Erfordernissen der modernen Berufswelt so weit hinterher, dass die Sorge vor amerikanischen Verhältnissen (hire and fire) lächerlich klingt", schreibt der "Mannheimer Morgen". Arbeitsamt-Chef Florian Gerster darf in seinem neuen Buch ungestraft die Abschaffung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ankündigen - noch vor wenigen Jahren hätte ihn das sein Amt gekostet. "Bsirske ist der Totengräber des Sozialstaates und des Wohlstandes, Gewerkschaften müssen entmachtet werden, sie sind eine Plage für unser Land", sagt FDP-Chef Guido Westerwelle. Er provoziert damit ein Schmunzeln, weil er es rhetorisch mal wieder übertreibt, aber in der Sache widerspricht ihm kaum jemand.
Heute gibt es fast so viele Jobsuchende wie arbeitende Gewerkschaftsmitglieder. DGB und Gewerkschaften vertreten eine Minderheit von rund sechs Millionen arbeitenden Menschen, der Rest ihrer Mitglieder sind Rentner. Damit genießen sie in etwa die Legitimation des ADAC, tun aber so, als dürften sie das ganze Volk repräsentieren. Mehr Rückhalt können sie nur gewinnen, wenn sie die Führung der Reformbewegung übernehmen. Nur so verhelfen sie mehr Menschen zu Jobs.
Falls sie diesen Kurswechsel verpassen, werden sie erleben, dass Deutschland mit starken Betriebsräten und schwachen Gewerkschaften besser zurechtkommt als mit dem heutigen Zustand. Organisationen, die eisern an Konzepten von vorgestern festhalten, stehen ihrer eigenen Evolution im Weg und werden später meist Opfer von Revolutionen. Die Alternative zum Wandel heißt nicht Stillstand, sondern Untergang - ein Schicksal, das den deutschen Gewerkschaften droht.
© 2003 Financial Times Deutschland
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