Ähnlichkeiten mit der Gegenwart sind offenkundig: Der Lebensweg von Simone Weil, die sich von der Pazifistin zur Widerstandskämpferin wandelte, bietet ein Lehrstück über die Herausforderungen unserer Zeit:
'...Simone Weil bleibt beim Plädoyer für Frieden um jeden Preis. Konsequent zerpflückt sie die Rhetorik der Politik. Verteidigung des freien Europa? Verteidigung der nationalen Souveränität, der territorialen Integrität? Verteidigung der Demokratie? Darauf hätten sich schon allzu viele und allzu lautstark berufen, mit vollkommen gegensätzlichen Machtinteressen, und gerade das Engagement der totalitären Großmächte Deutschland und Sowjetunion, die Spanien zum Probelauf nutzen, beweise nur eines: Kriegsgründe sind ausnahmslos Vorwände. Konsequenz: Eine akzeptable Rechtfertigung für Kriege kann es niemals geben, das zeige der Trojanische Krieg ebenso wie 1914, und für die Zerstörungen, die ein zweiter Weltkrieg mit sich bringen muss, werde es noch unendlich mehr gelten. Und ein Verteidigungskrieg?
?Ausgehend von diesem Prinzip kann man entscheiden, dass jedes Mal, wenn ein latenter oder angespannter Konflikt zum Krieg zu werden droht, man dem möglichen Gegner alle grundsätzlichen oder formalen, wirklichen oder symbolischen, geforderten oder heimlich gewünschten Zugeständnisse macht, die er hoffen kann durch einen Krieg und im gegebenen Kräfteverhältnis zu erlangen. Anders gesagt, man würde ihm ohne Krieg das Äquivalent eines Sieges geben. Das wäre eine nationale Erniedrigung?
Ja, das wäre eine nationale Erniedrigung. Na und?? Das ist die letzte, aber vollkommen logische Konsequenz des radikalen Pazifismus: Wenn man sogar den Verteidigungskrieg verwirft, kann man nur so der Vernichtung entgehen; wenn also ein zweiter Weltkrieg um jeden Preis verhindert werden muss, dann äußerstenfalls durch Unterwerfung unter den Aggressor. Doch falls die Trojaner ihre Tore freiwillig geöffnet hätten, hätten die Griechen deshalb auf Trojas Zerstörung wirklich verzichtet? Diese Frage stellt sie der Ilias nicht.
Englands Premierminister feiert die Selbstaufgabe als ?Peace for our time?. Claudel hatte es schon 1935 anders gewusst: Frieden um wirklich jeden Preis. Und jetzt endlich, nach München, begreift auch Simone Weil mit einem Schlag, was sie jahrelang nicht begreifen wollte: Der bedingungslose Pazifismus hat dem bedingungslosen Kriegswillen nichts entgegenzusetzen, nichts. Sie begreift, der Aggressor wird auf Entgegenkommen, Nachgeben niemals anders reagieren als mit noch stärkerer Aggression. Und sie begreift schließlich: Wer bisher nur von der Idee geredet hat, dem Gegner ?ohne Krieg das Äquivalent eines Sieges? zu überlassen, der muss genau das jetzt tatsächlich tun: Er muss kapitulieren, er muss der deutschen Wehrmacht die Grenze öffnen, jetzt. Und in diesem Augenblick, da der Gegner die Zeit des Redens beendet hat, weiß Simone Weil: Angesichts von Hitlers Krieg ist sie nicht mehr bereit, ihrer eigenen Maxime zu folgen.
Alles muss neu gedacht werden: Der Pazifismus war eine sich auf Moral berufende, doch realitätsblinde Abstraktion und ist Vergangenheit. Der unentschuldbare Fehler war die völlige Ausblendung des tatsächlich kriegsbereiten Gegners, war die Illusion, man könne durch Friedensappelle auf diesen Gegner einwirken. Die ideologiekritische Analyse von ?Nation, Sicherheit, Kapitalismus, Kommunismus, Faschismus, Ordnung, Autorität, Eigentum, Demokratie? mochte zwar logisch beweisen, dass es ?gute Gründe? für einen Krieg nicht geben könne, die Logik aber scheitert an jeder Aggression ohne gute Gründe, an Machtkalkül, imperialem Anspruch oder schlimmstenfalls abenteuerlicher Fehlkalkulation. Die extreme Rechte, die sich lautstark als nationale Alternative proklamiert, begeht mit der Parole: ?Lieber Hitler als Volksfront? nichts anderes als Verrat an der Nation.
Simone Weil, die auf die Möglichkeit einer ?nationalen Erniedrigung? 1937 noch mit ihrem ?Na und?? geantwortet hatte, verlässt Frankreich und geht zu Charles de Gaulles ?France libre?. 1943 im Londoner Exil nennt sie ihr einstiges Engagement nur noch ?meinen verbrecherischen Irrtum vor 1939 über die pazifistischen Kreise und ihr Handeln?. Ein Aufsatz aus diesem letzten Lebensjahr beginnt mit der Feststellung: ?Dieser Krieg ist ein Religionskrieg?, also mit der radikalen Umkehrung des einstigen Dogmas. Der jetzt tobende Weltkrieg ist kein Krieg zwischen Mächten mit gleichermaßen verwerflichen Motiven; wirkliche Moral müsse auch bei Kriegsgründen unterscheiden zwischen Recht und Unrecht, Gut und Böse: Die Verteidigung von Demokratie und Freiheit, notfalls mit der Waffe, wenn der Feind von Demokratie und Freiheit mit der Waffe angreift, ist kein Vorwand, ist eine existenzielle Pflicht....'
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