http://www.faz.net/s/...379F190305DC2E72C1~ATpl~Ecommon~Sspezial.html Die Empörung, die über Sarrazin jetzt hereinbricht, ist dennoch eine große Heuchelei. Sie nimmt zum Anlass, dass er in seinem Buch angeblich biologistisch, eugenisch, gar rassistisch argumentiert. Unhaltbare Schlussfolgerungen, reflexartige Skandalisiserung
Wahr ist, dass Sarrazin sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse beruft, die er nur halb, teilweise auch gar nicht verstanden hat und aus denen er unhaltbare Schlussfolgerungen zieht. Das ist bei Menschen, die in Zahlen und Statistiken verliebt sind, nicht eben selten; und es ist zwar falsch, aber nicht ungewöhnlich, dass Autoren den im steten Wandel begriffenen Stand der Wissenschaft ? ob Hirnforschung oder Genetik ? als letzte Wahrheit fehlinterpretieren.
Die in einem Interview gefallene Äußerung von einem ?jüdischen Gen?, die reflexartig skandalisisert wurde (in Wahrheit geht es um die Behauptung, dass ?Juden mehr genetisches Material miteinander, als mit ihrer nichtjüdischen Umgebung?, wie der Forscher Gil Atzmon sagt), ist in der Tat ein Politikum ? aber nicht in Deutschland, sondern im Nahen Osten.
Die Zustimmung, die Sarrazin aus dem Publikum entgegenschlägt, im Gegensatz zu dem fast einstimmigen offiziellen Scherbengericht, gilt nicht seinen schrägen oder falschen Thesen. Sie gilt einer Zustandsbeschreibung von Sozialstaatsmissbrauch und Integrationsverweigerung, für die fast jeder Beispiele kennt. Warum wurde so wenig gegen die Missstände getan?
Das Argument, dies sei alles bekannt und müsse nicht noch einmal auf provozierende Art wiederholt werden, ist lächerlich. Sind jene, die Ähnliches gesagt haben, wie der Neu-Köllner Bezirksbürgermeister Buschkowsky oder die Jugendrichterin Heisig, von der Berliner SPD gehört und gewürdigt worden? Wenn Sarrazins Beschreibungen altbekannt sind, warum wurde dann so wenig gegen die Missstände getan?
Wenn ausgerechnet jene, die in Sachen Umwelt das Hohelied des Bewahrens singen und gegen die ?Gentrifizierung? Berliner Stadtteile wettern, achselzuckend darüber hinweggehen, dass die Lebenswelt alteingesessener Kiezbewohner sich drastisch verändert oder untergeht, lässt sich das nur mit dem Wort ?Politikversagen? beschreiben.
Nicht anders steht es um Sarrazins Kritik der Einwanderung aus muslimischen Ländern. Dass es da ein besonderes Problem gibt, ist offiziell anerkannt ? wozu gäbe es sonst eine Islamkonferenz? Die perfekt integrierten Muslime, die als Gegenbeispiele im Fernsehen auftreten, zeigen nur, dass es auch anders geht ? Anstrengung auf beiden Seiten, vor allem aber bei den Migranten, vorausgesetzt. Es bleibt die Frage, warum ?anatolische Schwaben? wie Cem Özdemir immer noch Ausnahmen sind, auch wenn ihre Zahl glücklicherweise zunimmt.
Sarrazin hat Streit gesucht und bekommen. Wenn seine Verbannung dazu führt, dass über die von ihm benannten Probleme nicht nur gesprochen, sondern dass auch gehandelt wird, hätte der Streit einen Sinn gehabt.
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