Tiananmen, 15 Jahre später Heute vor 15 Jahren walzten Panzer den Studentenprotest auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking nieder. Längst bahnen sich die Wasser der Freiheit neue Wege von Johnny Erling
Der Platz des Himmlischen Friedens heute: In ganz Peking wurden die Sicherheitsmaßnahmen zum Jahrestag des Massakers erhöht Foto: dpa
Grelles Licht stört die Morgendämmerung über dem Tiananmen. Fernsehkameras leuchten den Platz des Himmlischen Friedens aus. TV-Crews filmen wartende Massen, die roten Halsbänder Hunderter Schüler leuchten aus der Menge. Sie bringt keineswegs die Erinnerung an das zusammen, was hier vor 15 Jahren geschah.
Im Morgengrauen des 4. Juni 1989 rückte die Armee gegen demonstrierende Studenten vor, richtete bei ihrem Marsch durch die Stadt ein Blutbad an und fuhr ihre Panzer auf. Die meisten Schüler, die jetzt auf dem Tiananmen stehen, waren damals noch nicht geboren. Sie sind wegen des Kindertages da. Um zu erleben, wie 36 Gardesoldaten im Stechschritt anmarschieren, um bei Sonnenaufgang Chinas Fahne zu hissen - das allmorgendliche patriotische Zeremoniell wurde zwei Jahre nach dem Massaker eingeführt, es sollte die Erinnerung daran verblassen lassen. Und das Kalkül scheint aufzugehen. Die Erwachsenen wirken ergriffen, die Jungen Pioniere salutieren vor der Fahne und halten ihre rechte Hand flach über den Kopf - die Geste soll demonstrieren, dass die Nation über den Einzelnen steht. Stolz rufen sie in Mikrofone, sie wollten dem sozialistischen Vaterland dienen, wenn sie groß seien.
He Jing, der populäre Fernsehmoderator, erhält am selben Tag im abendlichen Hauptprogramm eine andere Antwort. Er befragt in seiner Talkshow "Ehrlich gesagt" eine Achtjährige zu ihrer Familie. "Meine Eltern sind reich, deshalb bewundern uns alle", erzählt sie stolz. Die spontane Antwort entzückt das Publikum. Was am Morgen geschworen wurde, ist die eine, was das Mädchen am Abend sagt, die andere Wahrheit. Natürlich dominiert die Szene am Fahnenmast die landesweiten TV-Nachrichten.
Tags darauf verrät eine Umfrage unter 100 Kindern zwischen vier und sechs Jahren in der Boomstadt Shanghai, was 70 Prozent von ihnen erhoffen: "Reich werden". Drei Dinge nennen die Kinder: Viel Geld. Eigenes Haus. Ein Auto.
Es sei nur der Form halber, sagt die Ärztin im Krankenhaus: Sie fragt den Korrespondenten, der den Führerschein verlängern muss, ob er gut hören und sehen könne. Ein Ja genügt und ein Euro Gebühr, ihm für sechs weitere Jahre Fahrtauglichkeit zu attestieren.
Wo es ums Auto geht, handeln Pekinger Behören schnell, billig, unbürokratisch. Die Hauptstadt lässt 1000 neue private Pkws pro Tag zu. 2,2 Millionen Wagen verstopfen Peking - 20 Mal so viele wie 1989. Bis zur Olympiade 2008 soll sich ihre Zahl fast verdoppeln. Die Erfolgsmeldung wird in einer Kneipe sarkastisch kommentiert. Staus hätten auch ihr Gutes. Man brauchte künftig keine Barrikaden, um die Armee aufzuhalten. Die bliebe auf dem Weg zum Tiananmen im Verkehr stecken.
Der Wandel von der Diktatur zur Demokratie lässt auf sich warten. Blitzschnell hat Peking sich aber von einer Fahrradstadt zum Autodrom entwickelt. Die Träume vieler Chinesen handeln nicht mehr von Freiheit, sondern von Luxuslimousinen. Ein Kauderwelsch, an Babysprache erinnernd, durchdringt die 3000-jährige Kultursprache; Lallwörter wie "Baoma", "Falali", "Maibahe", "Kaidilake" oder "Binli" sind der Preis der Anverwandlung von Begriffen wie BMW, Ferrari, Maybach, Cadillac oder Bentley. Die Automarken sind bekannter als die Namen von KP-Größen aus dem Politbüro. Ferrari führt den Trend an. Vergangenen Oktober schickte die Firma 27 Luxuswagen unter Polizeigeleit auf eine spektakuläre Spritztour um den Tiananmen. Am Samstag organisiert sie nun eine Parade mit doppelt so vielen Edelwagen über Shanghais Bund. Ihr 400 000 Euro teurer 612 Scaglietti vorneweg - der wird auch Chinas erste Formel-1-Strecke in Shanghai eröffnen. Pekinger Journalisten stehen Schlange, um dabei zu sein: Abfahrt 4. Juni. War da nicht noch etwas an diesem Tag?
Erinnerung an das Massaker ist Chinas schärfstes Tabu. Wer daran rührt, wird bestraft. Dennoch wächst die Zahl mutiger Stimmen, die von den neuen Führern - Parteichef Hu Jintao und Premier Wen Jiabao - verlangen, den 4. Juni 1989 zu rehabilitieren. Unbekannte Internet-Autoren verschwinden nach solchen Aufrufen meist in Haft. Prominenten Kritikern versperren die Behörden aus Furcht vor dem internationalen Aufschrei nur den Zugang zu Presse, Verlagen oder Internet.
So widerfuhr es dem Pekinger Militärarzt Jiang Yanyong, der im März in einem offenen Brief das Massaker ein von der Partei verübtes Verbrechen nannte. Noch mutiger äußerte sich der 41-jährige Beida-Professor für Publizistik Jiao Guobiao. Er rief in einer schonungslosen Polemik zum Feldzug gegen das Propagandaministerium auf, das er ein Zentrum der Lüge nannte, einen Schutzschirm für böse und korrupte Mächte. Es spiele eine ebenso unheilvolle Rolle wie die römische Inquisition des Mittelalters oder Goebbels' Ministerium in Nazi-Deutschland.
Beiden Autoren passierte bisher nichts. Die Verbreitung ihrer Briefe wurde im Internet gesperrt. Im Sturm beugt sich der Bambus, bricht aber nicht. Nach solch altchinesischer Weisheit suchen kritische Geister Wege, um Kontrolle und Zensur zu umgehen. Weil die Partei das Internet mit ausgeklügelter Abfang- und Blockadetechnik filtern kann, wurde SMS zur Alternative. Die Handynachrichten gelten als Chinas fünftes Medium. 300 Millionen Mobiltelefone sind angemeldet, über die letztes Jahr 220 Milliarden SMS verschickt wurden. Das schwer kontrollierbare Medium eignet sich gut für politische bis schlüpfrige Witze über die Führung.
Überhaupt - das Gesicht dessen, was wir Opposition nennen, hat sich stark gewandelt. Unter Intellektuellen, Journalisten, Künstlern melden sich neue Kritiker zu Wort, die im Ausland, anders als klassische Dissidenten, noch kaum wahrgenommen werden. Viele kommen aus der neuen Gruppe selbstbewusster Manager, aufgestiegen bei der unaufhaltsamen Privatisierung von Handel, Gewerbe und fast allen Dienstleistungen.
Ende 2003 verdienten 87 Millionen Städter ihr Geld bereits in der Privatwirtschaft - mehr Menschen, als Deutschland Einwohner hat. Ihre politische Entmündigung passt nicht mehr zur Freiheit, die sie sonst in Gesellschaft und Wirtschaft vorfinden. Aus dem Mittelstand formiert sich die neue Gegenöffentlichkeit mit eigener Kultur, Musik und politischer Information. Sie trifft sich in Galerien, Cafés, Privatklubs, Redaktionsstuben oder Akademien.
Immer mehr Künstler thematisieren die Widersprüche der Reformgesellschaft. Die Staatsfahne und die Besessenheit der Chinesen, reich zu werden, kommen in den Objekten des 30-jährigen Fu Lei in der Pekinger "Art Factory 798" zum Ausdruck: ballgroße Porzellanschweinchen in den Popfarben Rosa, Gelb und Grün mit Einwurfschlitz, die Staatsfahne ist auf die Rücken glasiert. Fu Lei sieht die Nation als Sparschwein.
Die einstige Militärfabrik 798 wurde im Bauhausstil von der DDR errichtet. Seit zwei Jahren haben sich Avantgardekünstler in das bankrotte Staatsunternehmen, das Pekings Szenetreffpunkt wurde, eingemietet. Manche machen politische Kunst. Die Installation "Blumentopf mit Schere und Buddha" spielt auf Mao Tse-tungs "100-Blumen-Kampagne" 1957 an. Mao ermutigte damals die Intellektuellen zur freien Rede. Als sie anfingen, ihn und sein totalitäres System zu kritisieren, ließ er über eine halbe Million Menschen in Arbeitslager sperren. Das Kunstwerk besteht aus einem Topf mit verwelkten Blumen, einer rostigen Schere und einem aufgeklappten Buch der Autorin Zhang Yihe, die Maos Kampagne gegen die Intellektuellen beschreibt. Ihr 2004 erschienenes Buch hat das Propagandaministerium verboten. Gleiches passierte der Sammlung "Beichten oder nicht?" Darin setzen sich Autoren reuevoll mit ihrem Verhalten in der von Mao entfesselten Kulturrevolution auseinander. Im Vorwort steht: "Eine Nation, die nicht beichten und bereuen kann, hat keine Zukunft." Auf jeder der 300 Seiten ist der gekreuzigte Christus abgebildet.
Auf dem Tiananmen sieht man nichts mehr vom Massaker des 4. Juni. Die von Panzerketten zerdrückten Bodenplatten sind längst ersetzt. Man muss genau hinsehen, um unter den Touristen die Schar unauffällig zivil gekleideter junger Helfer der Staatsicherheit zu erkennen. Die Stadtregierung hat zwölf neue Regeln für den Platz erlassen. Seit dem 20. April sind sie in Kraft. Sie geben der Polizei freie Hand bei allen "unerwartet auftretenden Ereignissen". Chinas Partei hat 15 Jahre nach dem 4. Juni eine eigene Lex Tiananmen geschaffen. Ein Zeichen, wie stark sie noch immer die Erinnerung an die unverarbeitete Vergangenheit fürchtet.
Artikel erschienen am 4. Juni 2004 ^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^ interessant sind die reaktionen, bekannter linker boardgrößen. wie absoluter neuling etc. ist für diesen linken die virtuelle andacht, mental nicht zu begreifen...?
###################### gruß proxi
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