<!-- 68 / 68 --> stern.de - 18.11.2005 - 16:08 URL: http://www.stern.de/wissenschaft/mensch/549300.html?nv=cb Beginn des ArtikelsEvolutionslehre
Kulturkampf im Klassenzimmer Dover High School in Pennsylvania: Die Schulbehörde beschloss dass die Schüler fortan darüber informiert werden sollten, dass die Evolution eine Theorie sei, kein Fakt
In einer Kleinstadt in den USA klagen Eltern gegen die örtliche Schulbehörde, weil diese im Unterricht Zweifel an der Evolutionslehre verbreiten lässt. Das Urteil dürfte Signalwirkung für das ganze Land haben.
Sie sitzt auf dem Zeugenstuhl, klein und blass, unscheinbar mit ihrer Brille und der Strickjacke; wie aufgeregt sie ist. Nie hätte Julie Smith gedacht, dass es so weit kommen würde. Dass sie vor Gericht gehen und die Schule ihrer Heimatstadt verklagen würde. Nie hätte Julie Smith gedacht, dass sie sich einer Revolution in den Weg stellen würde.
Die medizinisch-technische Assistentin Julie Smith lebt in Dover, Pennsylvania, einem Provinzstädtchen mit 22 000 Einwohnern, zwei Autostunden nordwestlich von Washington. Weißer Kirchturm, viel Grün. Und die Dover High School, in die fast alle Jugendlichen des Ortes gehen. Im vergangenen Jahr, so gibt sie jetzt vor Gericht zu Protokoll, hatte Julie Smith von dem Streit in der Schulbehörde gehört; einer Behörde, die die Bewohner des Ortes aus ihrer Mitte gewählt hatten. Von Gott war die Rede und vom christlichen Amerika und von einem Antrag, den Lehrplan für Biologie zu ändern. Damals hatte Julie Smith auch zum ersten Mal von "Intelligent Design" gehört - angeblich eine Alternative zur Evolutionstheorie von Charles Darwin, zur Lehre von der Abstammung der Arten. Jüngere Erkenntnisse besagen, dass sich vor rund sieben Millionen Jahren durch natürliche Auslese aus Menschenaffen die Vormenschen, so genannte Hominiden, entwickelt haben. Dass aus ihnen unsere Vorfahren, die Urmenschen, hervorgingen, und schließlich Homo sapiens entstand. Der Mensch.
Was Wissenschaftlern in aller Welt die Grundlage des modernen Weltbilds ist, wird in den USA inzwischen auf breiter Front unter Beschuss genommen. Als Gegenmodell präsentieren die Anti-Darwinisten die Idee, dass in der Natur eine intelligente Kraft wirken müsse, ein "Designer". Er habe die Entwicklungsgeschichte allen Lebens von Beginn an gesteuert und begleitet - wahrscheinlich mit dem Ziel, am Ende den Menschen entstehen zu lassen. Vorfahren des Menschen (v.l.n.r): Australopithecus anamensis, A. afarensis, Kenyanthropus platyops, A. africanus
Amerikas öffentliche Schulen sind die Festungen, die genommen werden sollen, rund 17 000 Schulbehörden im ganzen Land, die großen Einfluss auf die Lehrpläne haben. Allein in den vergangenen drei Jahren wurden in mehr als 20 Bundesstaaten, wie etwa in Ohio oder New York, Gesetzentwürfe zu "Intelligent Design" eingebracht oder, wie in Kansas, sogar landesweite Verordnungen für Schulen erlassen, in denen die Evolution infrage gestellt wird.
Heute fehlt die Evolution auf dem Lehrplan in vier Bundesstaaten, darunter im bevölkerungsreichen Florida. Im Kreis Cobb, Georgia, prangte im vergangenen Jahr gar ein Aufkleber auf den Biologiebüchern: "Evolution ist eine Theorie, kein Fakt, was den Ursprung des Lebens betrifft." Im Januar verfügte ein Richter, die Aufkleber müssten entfernt werden, aber es wurde Berufung eingelegt.
In Dover, Pennsylvania, hatte die Schulbehörde im vergangenen Oktober beschlossen: Die Schüler sollten fortan darüber informiert werden, dass die Evolution eine Theorie sei, kein Fakt. Zu Beginn des Schuljahres verlas der Direktor im Biologieunterricht eine Erklärung, nach der auch "Intelligent Design" eine wissenschaftliche Theorie sei. In der Schulbibliothek sei ein Buch dazu ausgelegt.
Julie Smith verfolgte die Diskussion mit wachsendem Unbehagen. Eines Tages kam ihre Tochter Katherine, 16, aus der Schule nach Hause, beladen mit Vorwürfen. "Warum glaubst du an die Evolution?", schrie sie ihre Mutter an. "Was für eine Christin bist du eigentlich? Evolution ist eine Lüge!" So habe sie es von Freunden gehört. Und in der Schule. "Evolution ist eine Lüge!" © AP Megan Kitzmiller, Tochter von Tammy Kitzmiller, die die Schulbehörde verklagte In diesem Moment, als sie Angst bekam vor der wütenden Entschlossenheit ihrer Tochter, entschied sich Julie Smith, etwas zu unternehmen. Gemeinsam mit der Büroangestellten Tammy Kitzmiller und neun weiteren Müttern und Vätern verklagte sie die Schule. Unterstützt werden die Eltern von der liberalen Bürgerrechtsorganisation ACLU, der größten der USA.
Seit Ende September wird der Fall "04cv2688, Kitzmiller gegen Schulbehörde von Dover" nun vor dem US-Bundesgericht in Pennsylvanias Hauptstadt Harrisburg verhandelt. Der Prozess erregt landesweit Aufsehen. Denn erstmals muss ein Bundesrichter darüber urteilen, ob es sich bei "Intelligent Design" um eine wissenschaftliche Theorie handelt - oder, so die Position der Kläger, nur um eine moderne, pseudowissenschaftliche Verpackung für den Kreationismus, die Lehre der Bibeltreuen, nach der Gott vor 6000 bis 10 000 Jahren die Erde und die Menschen erschuf. Religiöse Konzepte dürfen an öffentlichen Schulen in den USA nicht gelehrt werden - so verlangt es das Verfassungsgebot der Trennung von Staat und Kirche. So verlangen es auch Julie Smith und ihre Mitstreiter.
Es geht um mehr als einen hässlichen Provinzstreit. Und es geht um mehr als die Evolutionslehre. Die religiösen Hardliner haben allem Atheismus und Materialismus den Kampf angesagt. In einem neuen, christlichen Amerika der Evangelikalen soll allein die Wahrheit der Bibel gelten. Es soll ein Amerika sein ohne Abtreibung, ohne Schwule, ohne Sexualkunde, ohne Darwin. "Diese Leute führen einen Angriff gegen die säkulare Gesellschaft", warnt Eugenie Scott vom liberalen Nationalen Zentrum für Wissenschaftserziehung. "Würde man ,Intelligent Design" unterrichten, wäre es ungefähr so, als ob man im Geschichtsunterricht die Holocaust-Lüge als eigenständige Theorie darstellen würde", mahnt der britische "Guardian". "Intelligent Design", fürchten die Kritiker, führe Amerika zurück ins Mittelalter.
Der Kampf um Gott im Klassenzimmer wird leise ausgetragen, zäh und geduldig. Es gibt keine Massendemonstrationen, keine lärmenden Predigten von Kirchenkanzeln, keine Propagandafeldzüge in den kirchlichen Fernsehkanälen. Vielmehr sollen Schulverwaltungen überzeugt werden, ihre Lehrpläne zu ändern. Von Ort zu Ort, von Kreis zu Kreis, im ganzen Land. Und es gibt einflussreiche Kämpfer, republikanische Senatoren etwa. Auch Präsident Bush, den Mann, der überzeugt ist: "Jesus Christus veränderte mein Herz." Ende August forderte er, verschiedene Konzepte im naturwissenschaftlichen Unterricht zuzulassen, darunter "Intelligent Design". Dies fördere "kritisches Denken", meint der Präsident. © Picture-Alliance Charles Darwin 1862: Nahezu 150 Jahre später lehnen 42 Prozent der Amerikaner seine Evolutionstheorie noch immer ab Zu den Fußtruppen der religiösen Revolution zählen mittlerweile mehr als 100 Millionen Amerikaner. "Man muss endlich verstehen, dass sehr viele Amerikaner viel religiöser sind als die Europäer", sagt David Masci vom renommierten Washingtoner Forschungsinstitut "Pew Forum über Religion". "Und besonders die evangelikale Bewegung wächst. 42 Prozent der Amerikaner glauben an die Schöpfung des Lebens durch Gott in sechs Tagen. Sie sind fest davon überzeugt, dass Darwin die moralischen Grundlagen unseres Landes untergräbt. Sie wollen Gott im Klassenzimmer. Und das ist erst der Anfang. Diese Debatte wird immer intensiver geführt werden, überall im Land. Ja, wir befinden uns in einem Kulturkrieg."
Die Bataillone der Fundamentalisten stehen im kalifornischen "Zentrum für die Erforschung der Schöpfung", wo man sich schon seit 33 Jahren dafür stark macht, die Bibel wortwörtlich zu nehmen. Im ebenfalls in Kalifornien beheimateten "Museum für Schöpfung und Erdgeschichte". Und in Petersburg, Kentucky, wo für 25 Millionen Dollar ein weiteres "Museum der Schöpfung" entsteht. Das Reiseunternehmen "Biblically Correct Tours" in Colorado bietet alternative Führungen in Naturkundemuseen an - Fossilien gelten dabei als "minderwertige Wissenschaft". Und in Ohio wird sogar ein "Marsch der Pinguine Leadership Workshop" angeboten. Die heroischen Anstrengungen der Pinguine bei der Aufzucht ihrer Jungen im gleichnamigen Dokumentarfilm seien Beweis genug für "Intelligent Design".
Doch entscheidend ist die Eroberung von Amerikas Schülerseelen. 1925 schon stand der junge Biologielehrer John T. Scopes aus Dayton vor dem Obersten Gerichtshof von Tennessee: Er hatte es gewagt, im Unterricht über die Evolution zu sprechen. Das war gesetzlich verboten. Der "Affen-Prozess" erlangte eine solche Berühmtheit, dass er sogar im Radio live übertragen wurde. Damals entschied das Gericht gegen John Scopes. Von da an galt es etwa im Bundesstaat Arkansas jahrzehntelang als "Verbrechen", in der Schule überhaupt über Darwin zu sprechen. In vielen Bundesstaaten wurde die "Wissenschaft von der Schöpfung" gelehrt. © Picture-Alliance Satire auf die Evolutionstheorie von 1861. Damals schockte die Theorie, dass Mensch und Affe auf gemeinsame Vorfahren zurückgehen, die althergebrachte Vorstellung von dem Menschen als Krone der Schöpfung Erst 1987 entschied das US-Verfassungsgericht, den Kreationismus endgültig aus den Schulklassen zu verbannen. Allerdings erlaubte der Supreme Court zugleich, "andere wissenschaftliche Theorien über den Ursprung des Menschen" als die Evolutionslehre zu unterrichten. Es mag ein Zufall gewesen sein, dass die Idee von "Intelligent Design" ungefähr zu diesem Zeitpunkt aufkam.
Es mag auch ein Zufall gewesen sein, dass dem Biochemiker Michael Behe damals ein Buch voller Kritik an der Evolutionslehre in die Hände fiel. "Bis dahin hatte ich natürlich fest an Darwin geglaubt", sagt Behe. "Doch dieses Buch machte mich zum Skeptiker. Von nun an suchte ich nach anderen Antworten." Der Professor an der Lehigh-Universität in Bethlehem, Pennsylvania, fand seine Antwort: in der jungen Theorie vom "Intelligent Design".
"Zugegeben, viele Aspekte der Evolution stimmen. Doch betrachten Sie etwa die molekulare Struktur von Zellen oder das Flagellum bei einigen Bakterien, diese kleinen Propeller, mit denen sie sich fortbewegen. Es sind Gebilde von außerordentlicher Komplexität. Sie können sich im unendlich langsamen Prozess der Evolution nicht entwickeln. Fällt nur ein einziges, winziges Teil dieser komplizierten Maschinerie aus, funktioniert nichts mehr. Ich nenne das unumkehrbare Komplexität. Selbst eine Mausefalle ist bereits solch ein komplexes Gebilde. Und das kann nicht durch natürliche Auslese geschaffen worden sein. Eine andere Kraft muss am Werk gewesen sein. Intelligenz. Ja, ein Designer."
Hat Professor Behe Beweise, die Grundlage jeder wissenschaftlichen Theorie? Braucht er nicht. "Diese Gebilde existieren. In jeder Zelle, in jedem Menschen. Auch wir sind kein Zufall. Ja, wir mögen vom Affen abstammen. Aber auch das war ein geleiteter Prozess." Und wer ist der Designer? "Vielleicht Gott", sagt er. "Vielleicht eine außerirdische Kraft." Heute gilt Michael Behe als einer der beiden führenden Vertreter von "Intelligent Design".
Sein Kollege William Dembski, Mathematiker und Professor für wissenschaftliche Konzepte am Baptisten-College in Louisville, Kentucky, meint gar, mathematische Beweise liefern zu können. "Darwin beantwortet die Frage nach dem Ursprung des Lebens doch nicht. Wir müssen die Grundregeln der Wissenschaft ändern", beharrt er. ",Intelligent Design" ist der Beweis, den Gott in die Natur gelegt hat. Der Beweis, dass die Welt ein Produkt von Intelligenz ist und nicht einfach das Resultat seelenloser materieller Kräfte. Wir müssen die Grundregeln der Wissenschaft ändern."
William Dembski, wie Behe ein Außenseiter unter Amerikas Wissenschaftlern, wurde vom einflussreichen Discovery Institute in Seattle mit Stipendien gesponsert. Dieses Institut wird unter anderem vom Ehepaar Roberta und Howard Ahmanson unterstützt, den schwerreichen Finanziers der evangelikalen Bewegung. Howard Ahmanson sitzt auch im Aufsichtsrat des Instituts. Zu dessen Programm gehören radikale Steuersenkungen ebenso wie der Kampf gegen den Materialismus. Mit den Kreationisten hat man hier angeblich nichts zu tun. © Picture-Alliance Unterstützt die Kreationisten: US-Präsident George W. Bush Vor neun Jahren verfasste das Institut ein geheimes Papier, das Jahre später an die Öffentlichkeit gelangte. Titel: die "Keil-Strategie". Wie ein Keil soll "Intelligent Design" in die amerikanische Gesellschaft getrieben werden. Wissenschaftler, Journalisten und Politiker sollen rekrutiert, die öffentliche Meinung soll mobilisiert werden. "Denker wie Charles Darwin, Karl Marx und Sigmund Freud stellten Menschen als Tiere oder Maschinen dar, deren Verhalten nur durch Biologie, Chemie und Umwelt diktiert wird", heißt es. "Wir möchten nichts weniger, als den Materialismus zu stürzen. Er leugnet moralische Standards."
Der Aufmarschplan dieser Revolution ist auf 20 Jahre angelegt. Dann soll "Intelligent Design" die "beherrschende Perspektive der Wissenschaft" sein. "Es beginnt mit der Erziehung, in den Schulen", heißt es. Ein Video, speziell für Schulbehörden und gläubige Eltern konzipiert, vermittelt für 12,99 Dollar Tipps zum rechtlich unanfechtbaren Umgang mit "Intelligent Design".
Es ist ein freundlicher Herbstmorgen in Harrisburg. Zum Prozess "Kitzmiller gegen Schulbehörde von Dover" ist sogar ein Verwandter von Charles Darwin angereist. Matthew Chapman heißt er, der Ururenkel des großen Forschers. Er will Flagge zeigen, meint der Drehbuchautor. Den Ruf seines Ururopas verteidigen.
Müde, etwas gelangweilt, schaut Bundesrichter John E. Jones III umher, er gähnt, tippt in den Computer auf seinem Tisch. An diesem Morgen wird der bekannte Wissenschaftstheoretiker Robert T. Pennock befragt. Er hat sich auf "Intelligent Design" spezialisiert. Drei Stunden lang erklärt er, freundlich und kenntnisreich, er liest viele Dokumente vor, und er lässt keinen Zweifel: "'Intelligent Design' ist ein religiöses Konzept. Es ist der Versuch, die Evolution auszuhöhlen. Seine Vertreter wollen eine theistische Wissenschaft. Falls sie Erfolg haben, würde Amerika in Zeiten zurückfallen, die vor der Aufklärung lagen. Und das wäre wirklich eine radikale Veränderung."
Auf der Klägerbank atmet Julie Smith tief durch. Darwins Ururenkel macht sich Notizen. Richter Jones III hört jetzt sehr aufmerksam zu. Sein Urteil wird in den kommenden Wochen erwartet. Danach kann nur noch eine Instanz angerufen werden: der Supreme Court, das Oberste Gericht der USA. Katja Gloger
stern-Artikel aus Heft 46/2005 <!-- /cM -->Der Tag in Bildern <!-- /cC -->< script type=text/javascript>');var ausgabe = "";if (window.navigator.appName == "Microsoft Internet Explorer"){ausgabe = "stern.de als Startseite";} else {ausgabe = "stern.de als Startseite";}document.write(ausgabe);//-->< /script>stern.de als Startseitestern.de-FeedsNewsletterCommunityPremium Inhalte
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