Sichelzellenanämie, Sichelzellenkrankheiten, Sichelzellenblutarmut Definition
§ Die Sichelzellenkrankheit, die auch als Sichelzellenanämie bezeichnet wird, ist eine vererbbare Blutkrankheit. Sie ist die auf der Welt am häufigsten vorkommende Hämoglobinopathie, das heißt eine genetisch bedingte Strukturveränderung des Hämoglobinmoleküls. Sie ist der Gruppe der Hämoglobinanomalien zuzuordnen. Hämoglobin (HB) wird auch als roter Blutfarbstoff bezeichnet und kommt ausschließlich in den roten Blutkörperchen (Erythrozyten) vor. Hämoglobin ist ein so genanntes Chromoprotein, dass zu 94 Prozent aus Globin (einem Eiweiß) und zu 6% aus der eisenhaltigen Gruppe Häm besteht. Hämoglobin wird in den Erythroblasten gebildet, das heißt in kernhaltigen Zellen, die sich durch Teilung und Reifung zu fertigen Erythrozyten (roten Blutkörperchen) entwickeln. Das fertige Hämoglobinmolekül enthält normalerweise insgesamt vier Eiweißketten (Alpha-, Beta-, Gamma- und Deltaketten) mit je einem Häm. Die Strukturveränderungen des Hämoglobinmoleküls verändern die Form der Erythrozyten; sie nehmen eine gestreckte (sichelartige) Form an. Daher auch der Name Sichelzellenkrankheit. Das Sichelzellen-Gen wird durch Vererbung an nachfolgende Generationen weitergegeben. Dabei werden zwei Formen der Vererbung in den nachfolgenden Generationen festgestellt: es gibt den heterozygoten Träger ("sickle-cell trait") des Sichelzellen-Gens und den homozygoten Träger des Sichelzellen-Gens. Der Letztere ist von besonderer Bedeutung, da hier das Krankheitsbild entsprechend geprägt ist. Die Sichelzellenkrankheit (Sichelzellenanämie) kommt fast ausschließlich bei dunkelhäutigen Menschen (oder Mischlingen) in Afrika, Amerika, Arabien, Indien, Vorderasien und im Kaukasus vor. Aufgrund von Einwanderern oder Flüchtlingen aus den betroffenen Regionen ist die Sichelzellenkrankheit heute auch in Deutschland von Bedeutung. Die Erkrankung beginnt meist im Kindesalter, kann aber auch in allen anderen Lebensjahrzehnten auftreten. 20 ? 40 Prozent der Bevölkerung im tropischen Afrika und 5 ? 10 Prozent der schwarzen Bevölkerung Amerikas sind heterozygote Anlagenträger. Im Rahmen der Sichelzellenanämie erlangen die heterozygoten Patienten eine Resistenz gegen die Krankheit Malaria, die gerade in den Tropen häufig vorkommt. Die Symptome des Krankheitsbildes treten in ähnlicher Form auch bei anderen Arten einer Anämie auf, welche im Rahmen einer gesicherten Diagnostik ausgeschlossen werden müssen. Hier ist insbesondere eine erworbene hämolytische Anämie zu berücksichtigen.
Ursachen§ § Die Ursache der Sichelzellenkrankheit ist eine Strukturanomalie des Hämoglobinmoleküls, deren Veranlagung an nachfolgende Generationen weitervererbt wird. Dabei befindet sich eine einzelne Veränderung (Punktmutation) auf Chromosom 11. Das hat zur Folge, dass in der Beta-Kette des Hämoglobins eine Aminosäure durch eine andere ersetzt wird.
Symptome§ § Die Symptomatik ist davon abhängig, welche Form der Sichelzellenkrankheit vorliegt. Die heterozygote Form verläuft in den meisten Fällen ohne jegliche Symptomatik und bedarf in der Regel keiner speziellen Therapie. Bei einem homozygoten Träger der Sichelzellenkrankheit sind die typischen Merkmale einer Anämie (Verminderung des Anteils der Erythrozyten, das heißt der roten Blutkörperchen, der Hämoglobinkonzentration oder des Hämatokrits in der gesamten Blutmenge) schon im Säuglingsalter vorhanden. Die Hautfarbe ist fahl-blass. Dies ist am deutlichsten an den Schleimhäuten und den Handinnenflächen sichtbar. Die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit ist reduziert. Oftmals besteht eine Neigung zu Schwindelanfällen und Kopfschmerzen. Bei Belastung treten Atembeschwerden auf und die Anzahl der Atemzüge und Pulsschläge nimmt zu. Es besteht Schlaflosigkeit. Neben den Kennzeichen der Anämie ist eine Vergrößerung der Milz und der Leber (Hepatosplenomegalie) vorhanden. Aufgrund der veränderten Form der Erythrozyten werden die Kapillaren, das heißt die kleinsten Blutgefäße, verstopft. Dies führt zur Infarktbildung in verschiedenen Organen, mit der Folge von Organschäden in Form von Gewebeuntergang. Betroffen davon sind vor allem die Leber, die Lunge, die Milz, die Knochen, die Nieren, die Netzhaut des Auges und das Zentralnervensystem. Durch die Schädigung der Knochen bestehen Knochen- und Gelenkschmerzen. Schäden der Niere führen zu Blutbeimengungen im Urin und einer eingeschränkten, sich immer mehr verschlechternden Funktion, was auch als Niereninsuffizienz bezeichnet wird. In diesem Stadium hat die Niere ihre Entgiftungsfunktion nahezu eingestellt. Folglich kommt es zur Harnvergiftung des Körpers; es werden lebenserhaltende Maßnahmen notwendig. Das Herz ist vergrößert. Es bestehen Geschwüre im Bereich des Unterschenkels (Ulkus curis), die sich bei einem Großteil der Betroffenen erstmals zwischen dem 13. bis 15. Lebensjahr zeigen. Beginnt die Erkrankung im Kindesalter, ist die körperliche Entwicklung verzögert. Typisch für den Verlauf dieser Erkrankung ist das Auftreten von so genannten hämolytischen Krisen, das heißt einem plötzlichen Absinken der Menge der roten Blutkörperchen, die einhergeht mit einer hell- bis dunkelgelben Verfärbung der Haut und Fieber. Typischerweise treten bei solchen Krisen Thrombosen in verschiedenen Organen auf. Besonders betroffen sind dabei die Organe des Bauchraumes und die Gelenke. Aufgrund von Thrombosen im Gehirn kann es zu neurologischen Störungen kommen. Ein weiteres typisches Kennzeichen dieser Erkrankung sind Schmerzkrisen. Diese treten nach Anstrengungen oder Infekten auf und sind für die Betroffenen sehr belastend. Sie sind gekennzeichnet durch Fieber und mehrere Tage dauernde, starke Schmerzen in den Gelenken, Knochen, dem Rücken und dem Bauchraum.
Diagnostik§ § Am Anfang der Diagnostik steht das ausführliche Anamnesegespräch, das Fragen nach einer Beschwerdesymptomatik, nach Schwächeerscheinungen, häufigen Infekten, Erkrankungen in der Familie etc. behandelt. Im Anschluss daran werden die Patienten körperlich untersucht. Besteht eine Blutarmut, fällt dem Arzt meist eine bleiche Hautfarbe des Patienten auf. Ist die Milz aufgrund eines vermehrten Abbaus der veränderten Erythrozyten vergrößert, kann man dieses Organ durch die Bauchdecke ertasten. Bei normaler Milzgröße ist dies nicht möglich. Oftmals kommt es dadurch zu Schmerzen im Magen-Darm-Bereich, die sich beim Abtasten verschlimmern können. Das entscheidende diagnostische Kriterium ist allerdings die Blutuntersuchung. Bei Verdacht auf diese Erkrankung wird der so genannte Sicheltest vorgenommen. Hierbei wird der Blutprobe eine zweiprozentige Natriumsulfid-Lösung zugefügt. Nach dieser Zugabe verformen sich die Zellen und zeigen unter dem Mikroskop die typische Sichelform. Ein weiteres Verfahren ist die Hämoglobin-Elektrophorese, mit der man den veränderten Hämoglobin-Typ nachweisen kann. Mittels apparativer Techniken wie Röntgen, Schichtröntgen (CT) sowie Kernspintomographie können eventuelle Organveränderungen dargestellt werden.
Auswirkungen§ § Ebenso wie bei der Symptomatik ist auch die Prognose der Erkrankung von der Art des vererbten Sichelzellen-Gens abhängig. Bei einem heterozygoten Träger des Sichelzellen-Gens besteht in der Regel eine normale Lebenserwartung. Dagegen ist die Sichelzellenkrankheit bei einem homozygoten Träger des Sichelzellen-Gens als schwere Blutkrankheit zu sehen, die meist zu einer etwas verkürzten Lebenserwartung führt. Durch die Entwicklung in der Medizin können diese Patienten allerdings inzwischen über 60 Jahre alt werden.
Therapie§ § Die Ursache dieses angeborenen Defektes kann nicht behoben werden. Zur Schmerzlinderung werden bei Schmerzkrisen Medikamente verabreicht. Weiterhin sind Bluttransfusionen indiziert, die bei kontinuierlicher Anwendung zu einer Verminderung der Schmerzkrisen führen können. Man sollte allerdings im Rahmen der Infusionstherapie ein gewisses Maß nicht überschreiten. Andernfalls können, aufgrund einer Eisenüberladung, schwere Komplikationen entstehen. Besteht eine Niereninsuffizienz, muss eine so genannte Nierenersatztherapie vorgenommen werden, das heißt die Funktion der erkrankten Niere muss alternativ übernommen werden. Hierzu wird die Dialyse eingesetzt, wobei regelmäßig das Blut des Patienten gereinigt wird. Bei einer deutlichen Milzvergrößerung wird gegebenenfalls eine Entfernung der Milz (Splenektomie) vorgenommen. Bestehen Unterschenkelgeschwüre, soll Bettruhe eingehalten und auf ärztliche Anordnung eine Behandlung mit einer entsprechenden Salbe vorgenommen werden. In schweren Fällen kann eine Knochenmarkstransplantation bei geeignetem Spender in Erwägung gezogen werden.
Prophylaxe§ § Der Zustand eines Sauerstoffmangels (große Höhe, große Anstrengung) sollte im Rahmen einer Anämie vermieden werden. Kindern sollte ein Schutz vor Infekten durch eine Penicillinprophylaxe bzw. Immunisierung (Impfung) gegen bestehende Erreger verabreicht werden. Bei Schmerzkrisen sollte neben der medikamentösen Schmerztherapie Flüssigkeit durch Infusionen zugeführt werden, damit die Gefäße besser durchgespült werden und einer weiteren Verstopfung der Gefäße vorgebeugt werden kann.
Bemerkungen§ § Leitlinien-Informationen der Fachgesellschaften findet man unter der URL: http://www.awmf-leitlinien.de/.
Literatur: Die Innere Medizin, Schattauer 2000; Innere Medizin, Urban & Schwarzenberger 1998; Praktische Hämatologie, Thieme 1989; Internistische Differentialdiagnostik, Thieme 1990; Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, de Gryter 1998; Herold, Innere Medizin 2005.
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