WELT:
Gefräßiger Unsozialstaat
Kanzler Schröder kritisiert Sozialmissbrauch und "Mitnahme-Mentalität" der Deutschen. Zu Unrecht. Nicht die Leute sind das Problem, sondern ein ausufernder Sozialstaat, der längst zum Unsozialstaat wurde
von Dorothea Siems
Die deutsche Politik hat ein Problem: Der Sozialstaat frisst den Großteil des Bundeshaushalts
Der Kanzler ist von den Deutschen enttäuscht. Das Gros der Bevölkerung sehe die Notwendigkeit von Veränderungen ein. Doch die Reformbereitschaft "schrumpfe sehr schnell, wenn es konkret wird und der Einzelne Auswirkungen auf die eigene Lebenssituation befürchtet", klagt Gerhard Schröder. Dass seine Diagnose stimmt, zeigen die Montagsdemonstrationen, auf denen die Veranstalter der Regierung vorwerfen, "die Axt an den Sozialstaat" zu legen. Bezeichnend sind auch die Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg. Daraus gingen die Parteien am rechten und linken Rand, die zuvor gezielt Angst und Wut über die eingeleiteten Reformen geschürt hatten, als Gewinner hervor.
Die Angst der Deutschen vor Einschnitte in den Sozialstaat sitzt tief. Wer Abstriche fordert, gilt als unsozial. In Wirklichkeit jedoch ist der überbordende Wohlfahrtsstaat in seinen Auswirkungen unsozial. Er vernichtet Millionen Jobs, weil er die Lohnkosten in die Höhe treibt. Auch die Verteilungswirkungen sind vielfach ungerecht. Vor allem aber wurden im Lauf der Jahrzehnte durch immer neue Wohltaten weite Bevölkerungsteile in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Staat gebracht.
Der Sozialstaat, einst das letzte Auffangnetz bei schweren Schicksalsschlägen, ist längst zum Brotgeber von Millionen von Menschen geworden. Ein Viertel ihres Einkommens erhalten die privaten Haushalte mittlerweile vom Staat. Systematisch ist der Wohlfahrtsstaat seit den 50-er Jahren ausgebaut worden. Damals wandte der Staat ein Sechstel aller erwirtschafteten Güter und Dienste für soziale Leistungen wie Renten, Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe auf. Mittlerweile liegt diese Quote mit 700 Milliarden Euro im Jahr bei einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts. Auch innerhalb des Bundeshaushaltes wuchs der Anteil des Sozialetats stetig. Inzwischen dienen rund 60 Prozent der von der öffentlichen Hand ausgegebenen Mittel sozialen Zwecken. Für Investitionen in Infrastruktur und Bildung bleibt da wenig übrig.
Es wirbeln die Transferströme
Sozialpolitiker aller Couleur haben im Laufe der Jahre ihr Auge auf immer neue Bevölkerungsgruppen gerichtet, die sie zu Bedürftigen erklärten. Ob allein Erziehende, Kinderreiche, Behinderte, Senioren, Arbeitslose, Häuslebauer oder Mieter - sie und noch viele andere wurden von Vater Staat an die Hand genommen. Immer neue soziale Leistungen wurden kreiert: vom Erziehungsgeld über die Eigenheimzulage bis hin zu Lohnkostenzuschüssen oder der Grundsicherung für Rentner.
Längst haben nicht nur die Bürger, sondern auch die Politiker den Überblick über die verschiedensten Finanzströme im Sozialstaat verloren. Auf der einen Seite wird das Gros der Bevölkerung über Steuern und Abgaben zur Kasse gebeten. 1960 blieben dem Arbeitnehmer nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben 84,2 Prozent von seinem Bruttolohn. Heute lässt der Staat ihm gerade mal noch 65,2 Prozent zur freien Verfügung. Auf der anderen Seite erhält aber inzwischen auch nahezu jeder irgendetwas zurück aus dem großen Topf.
Keineswegs geht es dabei vorrangig um eine Umverteilung von den Reichen zu den Armen. "Offenkundig wirbeln die Transferströme wild durcheinander: von oben nach unten, aber auch von unten nach oben, vorzugsweise jedoch von links nach rechts und von rechts nach links", kritisiert der Leiter des Bonner Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsforschung, Meinhard Miegel. Es sei schlichtweg unmöglich, zu berechnen, wer was von wem bekommt. Hochrangig besetzte Expertengruppen seien stets beim Versuch gescheitert, Licht ins Dunkel zu bringen.
Am Ende kassieren die Falschen
"Das Kernproblem des Sozialstaats ist, dass viele Menschen Leistungen beziehen, die sie gar nicht brauchen", meint Johann Eekhoff, Sprecher des renommierten Ökonomenzirkels Kronberger Kreis. Als Beispiel für das Prinzip "rechte Tasche, linke Tasche" nennt der Ökonom die Riester-Förderung der privaten Altersvorsorge: Jeder werde gefördert, aber fast jeder werde über Steuern auch zur Finanzierung herangezogen.
Noch schlimmer ist es, wenn der Sozialstaat für eine Umverteilung von unter nach oben sorge. In der Krankenversicherung etwa zahlt ein doppelverdienendes Ehepaar, die beide ein Durchschnittseinkommen beziehen, zusammen höhere Beiträge als der Einkommensmillionär, dessen Gattin nicht berufstätig ist. Auch die neuen Hartz-Gesetze haben unerwünschte Umverteilungseffekte. So darf eine Familie ein Vermögen von 60 000 Euro und mehr besitzen und erhält dennoch das neue Arbeitslosengeld II, das der heutigen Sozialhilfe entspricht. Finanziert wird diese Leistung auch von Steuerzahlern, die gerade mal ein paar 100 Euro mehr verdienen als die Unterstützungsempfänger und keineswegs in der Lage sind, jemals selbst ein entsprechendes Vermögen anzusparen.
Wege zum Nichtstun
Es ist der Sozialstaat, der dafür sorgt, dass es sich für viele Langzeitarbeitslose schlichtweg nicht lohnt, eine reguläre Arbeit anzunehmen. Der Chef des Münchener Ifo-Instituts, Werner Sinn, spricht von der "Eiger-Nordwand": Weil mit jedem verdienten Euro die Fürsorgeleistung schrumpft, ist der Anspruchslohn des Beziehers so hoch, dass sich am Arbeitsmarkt kein Job für ihn finden lässt. Für viele ist es deshalb verlockernder, dauerhaft die staatliche Unterstützung zu kassieren und auf dem Schwarzmarkt etwas dazuzuverdienen. Kein Wunder, dass die Schattenwirtschaft boomt.
1975 wurden nach Schätzungen von Friedrich Schneider von der Universität Linz gerade mal 5,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts schwarz erwirtschaftet. Im vergangenen Jahr lag die Quote bei 17,1. Je mehr sich die Schere zwischen Brutto- und Nettolöhnen weitet, desto eher sind auch redliche Bürger bereit, Handwerksdienste oder Putzarbeiten auf dem Schwarzmarkt nachzufragen. Das Problem: Der Kreis derjenigen, die die gesamte Last der Einkommensteuer und Sozialabgaben schultern muss, wird immer kleiner.
Die Mär von der segensreichen Migration
Verschärft wird das Finanzierungsproblem durch die bevorstehende Überalterung der Gesellschaft: Dem Sozialsystem geht der Nachwuchs aus. Die Hoffnungen, dass verstärkte Zuwanderung eine Entlastung bringen könnten, haben sich als Illusion erwiesen. Nach Berechnungen des Ifo-Instituts erhält ein Einwanderer im Schnitt mehr an staatlichen Leistungen, als er im Gegenzug einzahlt. Dies gilt zwar weniger für die Sozialversicherungen, aber dafür umso stärker für steuerfinanzierte Leistungen, angefangen von der Sozialhilfe bis hin zu Bildungsangeboten.
Denn Einwanderer, die im Regelfall nur über unterdurchschnittliche Einkommen verfügen, profitieren überproportional stark von der im Steuersystem angelegten Umverteilung. Je kürzer sich ein Migrant in Deutschland aufhält, desto stärker werden die deutschen Systeme belastet. Wer spätestens nach zehn Jahren wieder weg ist, kostet per Saldo 2367 Euro pro Jahr. Bleibt jemand länger als 25 Jahre, schrumpft der Betrag auf 853 Euro. Die Zuwanderung mindert somit nicht den Druck auf das Sozialsystem, sondern verstärkt ihn sogar noch.
Obwohl die Notwendigkeit von Reformen nicht mehr zu übersehen ist, sind Proteste selbst bei zaghaften Einschnitten wie der Einführung der Praxisgebühr heftig. Für Meinhard Miegel, steht fest, dass das Gros der Bevölkerung aus Unwissenheit Sozialreformen ablehnt. Geschickt hätten die Sozialpolitiker es stets verstanden, den Wert der Wohltaten groß herauszustellen, während sie die wahren Kosten verschleierten. Da wird ein immer größerer Teil der Sozialleistungen über Steuern finanziert, um die Beiträge künstlich niedrig zu halten. Auch die hälftige Finanzierung durch Arbeitgeber ist Augenwischerei. Denn der Beschäftigte muss neben seinem Bruttolohn auch den Arbeitgeberanteil erwirtschaften, ansonsten ist der Job nicht rentabel und wird abgebaut.
Das System kann nur so lange funktionieren, wie die Mehrheit der Bevölkerung glaubt, dass für sie die Bilanz positiv ausfällt. Tatsächlich aber bringt der Wohlfahrtsstaat für die meisten keinen Vorteil. "Am Ende der großen Umverteilung stehen die meisten da, wo sie zu Beginn standen - abzüglich der Umverteilungskosten", stellt Miegel fest. Und diese Kosten sind beträchtlich. Denn das Sozialsystem funktioniert nach der Logik des Kalten Büffets: Gezahlt wird im Voraus, und jeder nimmt sich, soviel er kriegen kann. Eine Massage oder Badekur findet jeder angenehm. Die wenigsten aber, wären bereit, die Kosten dafür allein zu zahlen, selbst dann, wenn sie dies könnten.
Die Folge des jahrzehntelangen Aufblähens des Wohlfahrtsstaats ist, dass die Bürger sich an die staatliche Bevormundung gewöhnt haben. Miegel: "Wenn man eine Gesellschaft über zwei Generationen dahin konditioniert hat, ist es kein Wunder, dass die Menschen nun Angst davor haben, wieder selbst Verantwortung zu übernehmen."
Artikel erschienen am Mi, 22. September 2004
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