Aus der FTD vom 29.12.2000 Kommentar: Die Massenmärkte der Zukunft Von Christoph Keese
Was kommt nach dem Internet- und Handyboom? Schon heute gibt es Indizien für den übernächsten Trend der Konsumkultur: Raumfahrt, Energie und Gentechnik
Während der Feiertage wird der eine oder andere Anleger seinen Frieden mit den Börsenverlusten dieses Jahres gemacht haben. Abgeschrieben, Schwamm drüber, Blick nach vorn. Es mangelt nicht an Vorschlägen für neue Investitionen. Auch diese Zeitung hat in den vergangenen Tagen eine Reihe von Chancen genannt.
Die meisten Vorschläge zielen auf die kurze Frist. Was aber wird der nächste langfristige Megatrend? Welche Erfindung inspiriert die Phantasie des Publikums demnächst so heftig wie früher das Internet? Was wird "the next big thing", wie die Amerikaner sagen? Natürlich kennt niemand die genaue Antwort. Trotzdem gibt es einige deutliche Hinweise auf die Konsummärkte von übermorgen.
Strom weckt die Leidenschaft
In den vergangenen Jahrzehnten boomten vor allem technische Konsumgüter. Je komplexer das Gerät, desto größer die Begeisterung: In deutschen Haushalten stehen heute fast dreimal so viele Fernseher wie Geschirrspülmaschinen. Es gibt mehr Anrufbeantworter als Wäschetrockner und fast so viele Computer wie Mikrowellen. Schlager wie das Handy stellen alles in den Schatten, was die Konsumgüterindustrie vom Shampoo bis zur Sitzgarnitur sonst noch produziert.
Alles, was mit Strom funktioniert, scheint die Leidenschaft der Käufer zu wecken. Je mehr Chips und Schaltungen in einem Gehäuse stecken, desto besser läuft der Verkauf. BMW-Limousinen besitzen genug Computerleistung für eine Apollo-Mondlandung, und Sonys neue Playstations könnten Intercontinentalraketen steuern. Die Hightech-Leidenschaft des Publikums hat der deutschen Elektro- und Elektronikindustrie ein Beschäftigungswunder beschert. Dort arbeiten inzwischen mehr Menschen als in der traditionellen Metallerzeugung und -bearbeitung.
Insider verlieren die Kontrolle
Hinter diesen Erfolgsgeschichten steckt ein Megatrend zur Demokratisierung von Technologie. Fast jede neue Erfindung blieb zunächst einem engen Kreis von Insidern vorbehalten. Am Anfang können nur die Kenner mit der Erfindung umgehen. Ein paar Jahre lang leben sie gut von ihrem Monopol. Dann aber verlieren sie die Kontrolle.
Querschläger oder Außenseiter bauen leicht bedienbare Versionen der Geräte. Das breite Publikum entdeckt die neue Technik und reißt sie den Insidern aus den Händen. Plötzlichen entstehen Massenmärkte, wo kaum jemand sie vermutet hatte.
Computer sind ein berühmtes Beispiel für diesen Prozess, aber längst nicht das einzige. Laser, Fax, Radio, Fernsehen, Satellitennavigation, Telefon und das Internet waren Erfindungen, die anfangs von einer Interessengruppe geschützt wurde - meistens vom Militär, einem behäbigen Monopolisten oder einem ignoranten Patentinhaber, der sich den Massenmarkt für sein Produkt nicht vorstellen konnte.
Wer den Boom der Zukunft sucht, schaut also am besten dort, wo eine begehrenswerte Technologie den Massen noch nicht zum Konsum angeboten wird. Dabei spielt keine Rolle, aus welchen Gründen das geschieht. Oft leuchten die Argumente gegen eine weite Verbreitung den Zeitgenossen sofort ein, weswegen sie gar nicht kritisieren, dass die Erfindungen nicht verfügbar sind. Jeder noch so gut klingende Grund kann aber schnell ad absurdum geführt werden.
Diktat einer Minderheit
Bestes Argument gegen die schnelle Verbreitung des Telefons war damals, dass es angeblich keinen Massenbedarf für den Austausch von Informationen gab. Gegen Eisenbahnen sprach der Verdacht, der Mensch könne jenseits der 30 Stundenkilometer körperlichen Schaden nehmen. Und noch vor einem Jahr kämpfte das amerikanische Militär gegen eine breite Nutzung des GPS-Navigationssystems mit dem Argument, ein jeder könne damit Raketen direkt ins Weiße Haus schießen. Es sind immer wieder die gleichen drei Begründungen: Erstens gibt es angeblich keinen Markt, zweitens verträgt der normale Mensch die Folgen der Erfindung vermeintlich nicht, oder drittens richtet er damit wahrscheinlich Schaden an. Immer versucht eine Minderheit, die Mehrheit vor sich selbst zu schützen.
Diese Form von Erziehungsdiktatur funktioniert jedoch ebenso wenig wie staatlicher Dirigismus. Am Ende gewinnt immer die Mehrheit. Je entschlossener ihr die Technologie vorenthalten wurde, desto heftiger explodiert die Nachfrage, sobald die Schranken fallen. Heute stechen vor allem drei Technologien ins Auge, die mit scheinbar einleuchtenden Argumenten für den Massenmarkt verschlossen sind: Raumfahrt, Energieerzeugung und Gentechnik. Genau hier warten vermutlich die Konsummassenmärkte der Zukunft.
Keine Entwicklung fasziniert Menschen so sehr wie Raumfahrt. Trotzdem hat es bis heute - dreißig Jahre nach der Mondlandung - noch kein Tourist in die Umlaufbahn geschafft. Angeblich gibt es zu den vorherrschenden gigantischen Preisen keine Nachfrage. Doch das Argument täuscht: In der Wirtschaftsgeschichte haben sich Angebot und Nachfrage noch immer getroffen, wenn das Gut attraktiv genug war. Umfragen belegen, dass viele Konsumenten für kein anderes Gut soviel Geld auszugeben bereit wären wie für die Möglichkeit, einmal im Leben die Erde von oben zu sehen. Allein dieser Umstand ist für Unternehmen ein Ansporn, die Raumfahrt zu demokratisieren. Sobald die Preise sinken, entsteht ein Massenmarkt.
Explosive Nachfrage
Bei der Energieversorgung akzeptieren die meisten Konsumenten noch immer intuitiv, dass sie von großen Konzernen beliefert werden und nicht für sich selbst sorgen können. Doch das ändert sich wohl bald. Mit der Einführung der Brennstoffzelle bekommen normale Menschen Zugang zur Energietechnik. Sie waren jahrzehntelang davon abgeschnitten, und wenn die Preise stimmen, könnte bald eine heftige Nachfrage nach Klein- und Kleinstkraftwerken entstehen.
Den stärksten aller Booms aber wird die Gentechnik auslösen. Die Konsumenten werden das Ethikmonopol von Staat und Wissenschaft überrennen und mit der Brieftasche abstimmen. Ihre Antwort auf Grundsatzfragen wird so eindeutig ausfallen wie heute bei der Schönheitschirurgie: Was attraktiver macht oder Krankheiten lindert, ist erlaubt und wird gekauft.
Wenn ein Vater für 250 DM das Risiko von Kurzsichtigkeit seines künftigen Kindes genetisch abstellen kann, wird er es tun. Wenn er für 1000 DM das Krebsgen seiner Tochter ausmerzen kann, wird er ja sagen. Ethikkommissionen werden in jene Ecke gedrängt, in der sie heute etwa beim Transplantationswesen schon stehen: Sie dürfen kritische Einzelfälle beraten, aber nicht einen ganzen Zweig der Medizin aufhalten.
Und Politiker haben vor allem eine Aufgabe: echten Schaden zu verhindern. Natürlich gäbe es Nachfrage für private Kernspaltung - sie darf nicht befriedigt werden. Ansonsten aber verdient jeder Bürger Zugang zu jeder Technik, die erfunden ist.
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