HEINER GEISSLER ZUR CDU-REFORMDEBATTE
"Wer so stiehlt, den wählt man nicht"
Der Reformkurs von CDU-Chefin Merkel führt nach Ansicht des früheren CDU-Generalsekretärs Geißler direkt ins Wahldebakel. Wenn die radikalen Vorschläge der Herzog-Kommission übernommen würden, sei die Niederlage der Union bei den nächsten Wahlen bereits programmiert, sagte Geißler im Interview mit SPIEGEL ONLINE.
| | | CDU-Politiker Geißler: "Die Niederlage wäre programmiert" |
| | SPIEGEL ONLINE: Herr Geißler, ist das noch Ihre CDU? Heiner Geißler Die Zugehörigkeit zu meiner Partei mache ich nicht davon abhängig, dass ein auf Zeit gewählter Vorstand und eine auf Zeit gewählte Vorsitzende einem falschen Konzept folgen. Ich bin weder wegen eines Parteivorsitzenden noch wegen eines Bundesvorstandes in die CDU eingetreten, sondern wegen der Grundsätze. Wenn diese Grundsätze einmal verletzt werden, wird das von mir kritisiert. SPIEGEL ONLINE: Die Herzog-Kommission schlägt unter anderem vor, dass jeder Bürger ab 2013 rund 264 Euro monatlich ins Gesundheitssystem zahlen soll. Kleinere Einkommen sollen steuerlich entlastet werden. Nimmt die CDU-Spitze mit ihrem Votum für die Herzog-Vorschläge Abschied vom alten Sozialstaatsmodell der westdeutschen Bundesrepublik? Geißler: Das ist viel zu fundamentalistisch formuliert. Das Problem ist viel pragmatischer. Ich kritisiere nicht die Abkehr von der paritätischen Finanzierung. Aber die Alternative der CDU geht in die falsche Richtung und ist schlecht gerechnet. SPIEGEL ONLINE: Ist der Reformansatz angesichts der drängenden Probleme in den Sicherungssystemen nicht längst überfällig? Geißler: Der Herzog-Vorschlag verschweigt, dass die negative Bevölkerungsentwicklung nur durch eine verstärkte und gezielte Zuwanderung junger Menschen aufgehalten werden kann. Darauf muss man das deutsche Volk vorbereiten, wozu den Verantwortlichen der Mut fehlt. Auf den demographischen Wandel mit einer kapitalgedeckten Kranken- und Pflegeversicherung zu antworten, ist ökonomisch ein schlechter Witz. Schon heute muss Bundesfinanzminister Hans Eichel die Privatversicherer durch Steuersubventionen vor dem Konkurs retten. SPIEGEL ONLINE: Wieso? Geißler: Bei einem Rückgang der Erwerbsbevölkerung auf 30 Millionen bis 2050 geht die Binnennachfrage um 20 Prozent zurück, Grundstücke verlieren mangels Nachfrage dramatisch an Wert und gehen den Banken als Kreditsicherung verloren. Die Innovationsfähigkeit der Deutschen wird durch den Geburtenschwund halbiert. SPIEGEL ONLINE: Trotzdem - die Kopfprämie von 264 Euro könnte ein Ausweg sein, auch am Ende mehr Arbeitsplätze schaffen. Zwar werden Kosten auf die Arbeitnehmer abgewälzt, aber eine Entlastung der Arbeitgeber von den drückenden Lohnnebenkosten ist doch unzweifelhaft vorhanden. Geißler: Die Kopfpauschale bewirkt, dass die Verkäuferin gegenüber heute das dreifache bezahlen muss, während derjenige, der 10000 Euro monatlich an Einkommen bezieht, weniger bezahlen muss. | | | CDU-Politiker Herzog, Merkel: Plädoyer für einen Systemwechsel |
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SPIEGEL ONLINE: Dafür soll es aber einen steuerlichen Ausgleich für die unteren Einkommensbezieher geben. Geißler: Der steuerliche Ausgleich ist extrem bürokratisch, weil fünf Millionen Menschen keine Steuern bezahlen. Eine Bürgerversicherung mit prozentualen Beiträgen auch von Kapitalerträgen, Mieteinkünften, Beamtengehältern wie bei der Rentenversicherung in der Schweiz ist finanziell viel wirksamer und gleichzeitig gerechter. Die Stärkeren zahlen für die Solidarität mehr als die Schwächeren und können dann durch eine effiziente Steuerreform entlastet werden. SPIEGEL ONLINE: Manche in Ihrer Partei, vor allem vom Arbeitnehmerflügel, befürchten, dass die CDU in der jetzigen Debatte als Partei der sozialen Kälte begriffen wird. Haben sie Recht? Geißler: Wenn diese Kopfprämie eingeführt wird, dann werden die Plakate der SPD bei der nächsten Bundestagswahl lauten: Wer so stiehlt, den wählt man nicht. SPIEGEL ONLINE: Da spricht der frühere CDU-Generalsekretär. Geißler: Das sagt einem schon der Menschenverstand. Würden diese Vorschläge Wirklichkeit, wäre die Niederlage der CDU vorprogrammiert. SPIEGEL ONLINE: Was macht Sie da so sicher? Geißler: Der Blick zurück. Die CDU hat 1998 nicht nur wegen Helmut Kohl die Wahlen verloren, sondern auch wegen der provokativen Absenkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall um 20 Prozent. In keinem einzigen Tarifvertrag ist diese Forderung der Unternehmen später übernommen worden. Die Liberalen haben triumphiert, die CDU als Volkspartei hat aber die Regierung verloren. Im übrigen: Es ist genau derselbe Flügel in der CDU, der diese damalige unsinnige Forderung durchgesetzt hat und dem nun wiederum in der Herzog-Kommission Erfolg beschieden war. SPIEGEL ONLINE: Düstere Aussichten also? Geißler: Sollte die CDU diese Vorschläge durchsetzen, dann verliert sie ihren Charakter als Volkspartei und begibt sich auf den Weg hin zu einer neoliberalen, konservativen Partei nach dem Muster der Tories in Großbritannien. Und wo die gelandet ist, das wissen wir. SPIEGEL ONLINE: In der Opposition. Geißler: Und zwar fast schon zementiert bei 30 Prozent. SPIEGEL ONLINE: Nun will Frau Merkel die CDU ja nicht mit ihrem Plädoyer für die Herzog-Vorschläge nach unten ziehen, sondern hochbringen. Die CDU steht doch in den Umfragen sehr gut da. Geißler: Man darf sich durch Umfragen nicht täuschen lassen. In jeder Legislaturperiode ist es so, dass die Regierung unten steht und die Opposition oben. Im Augenblick liegen wir extrem auseinander - aber das kann sich sehr schnell ändern. SPIEGEL ONLINE: Aber ist es nicht besser, jetzt die programmatische Klärung zu suchen, statt es - wie es Rot-Grün tut -mitten im Prozess des Regierens, mit allen Folgen für die Stabilität einer Koalition? Geißler: Die Herzog-Kommission marschiert in die falsche Richtung. Natürlich muss reformiert werden, aber die gewählte Alternative ist falsch. Sie entspricht mehr dem amerikanischen Modell, geht hin zu einem kapitalgedeckten, privatrechtlichen Versicherungssystem. SPIEGEL ONLINE: Was wäre Ihre Alternative? Geißler: Die Bürgerversicherung. Sie bewirkt eine deutliche Umverteilung von Oben nach Unten und eine entscheidende Abkoppelung der Lohnnebenkosten von den Löhnen, weil wir höhere und bislang noch gar nicht berücksichtigte Einkommen in das Versicherungssystem einbeziehen. Die Herzog-Vorschläge gehen genau den umgekehrten Weg - eine massive Umverteilung von unten nach oben. | | | CSU-Chef Stoiber: Druckmittel ist die CSU-Landesgruppe |
| | SPIEGEL ONLINE: Die Bürgerversicherung hat Frau Merkel abgelehnt, auch in der CSU steht Horst Seehofer mit seiner Forderung allein. Haben Sie denn noch Hoffnung, dass die CDU eine Abkehr von den Herzog-Plänen vornimmt? Geißler: Ich fürchte nicht. Die CDU ist in den letzten zehn Jahren eine autoritätsgläubige Partei geworden. SPIEGEL ONLINE: Welchen Druck könnte die CSU machen? Geißler: Sie kann ihre Vorstellungen über die Landesgruppe in der Bundestagsfraktion einbringen. Es ist schwer vorstellbar, dass ohne die Zustimmung der CSU in dieser Hinsicht irgendetwas gehen könnte. SPIEGEL ONLINE: Was raten Sie Ihrer Partei bis zum CDU-Parteitag Anfang Dezember in Leipzig? Geißler: Dass sie Vernunft annehmen soll. Das Interview führte Severin Weiland
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