Der wahre Erbe von Helmut Kohl Was geht mich meine Verfassungsauslegung von gestern an?
R. Kochs zweiter Streich: Die Verfassungsrevolution geht weiter
Nachdem die Regierung Schröder im Juli 2000 ihre Steuerreform durch den Bundesrat gebracht hatte, wurde CDU-Generalsekretär Polenz im Deutschlandfunk zu den drei von großen Koalitionen regierten Ländern befragt, deren Einschwenken den Sieg der Regierung herbeigeführt hatte. Polenz gab zu bedenken, man müsse "sicherlich unterscheiden die Situation in den Ländern, wo wir in großen Koalitionen sind, aber nicht den Ministerpräsidenten - und damit den Stimmführer - stellen, und Ländern, wo das anders ist". Der Generalsekretär wollte das Handeln des Berliner Regierenden Bürgermeisters Diepgen anders bewerten als das Verhalten der stellvertretenden Ministerpräsidenten von Bremen und Brandenburg, Perschau und Schönbohm.
Die Auffassung der CDU-Führung, daß von Schönbohm nicht erwartet werden konnte, gegen seinen Ministerpräsidenten Stolpe eine - dem Nein gleichkommende - Enthaltung Brandenburgs zu erzwingen, entsprach der ungebrochenen Verfassungspraxis. Die Länder werden zur Stimmabgabe aufgerufen, und da sie ihre Stimmen nicht splitten können, antwortet eines der Mitglieder namens seines Landes. Wieso hätte man Schönbohm drängen sollen, eine Stimmführerschaft an sich zu reißen, die Stolpe schon deshalb wie von selbst zufiel, weil er den Rebellen noch in der Bundesratssitzung hätte entlassen können? Die Möglichkeit, ein abweichendes Votum zu Protokoll zu geben, schließt der simple Wortlaut des Grundgesetzes aus. "Die Stimmen können nur einheitlich abgegeben werden." Es heißt nicht: Nur einheitlich abgegebene Stimmen werden gezählt.
Daß diese einfache Frage nun doch Gegenstand eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens ist, dessen Entscheidung in den nächsten Tagen erwartet wird, hat seine Ursache darin, daß die Unionsspitze eine Wiederholung der Blamage vom Juli 2000 um jeden Preis vermeiden wollte. Als im Februar dieses Jahres der Streit um das Zuwanderungsgesetz eskalierte, tat sich als strategischer Kopf der hessische Ministerpräsident Koch hervor. Er führte seinen Kollegen vor Augen, dürfte der Ministerpräsident im Konfliktfall das entscheidende Wort sprechen, würden alle Koalitionsvereinbarungen hinfällig, die bei Dissens Enthaltung im Bundesrat vorschreiben. Damit stellte Koch die Sache auf den Kopf. Diese Vereinbarungen setzen gerade voraus, daß die Freiheit des Stimmführers nicht rechtlich beschränkt ist, sondern nur politisch neutralisiert werden kann, indem dem Ministerpräsidenten für den Fall des Wortbruchs der Koalitionsbruch angedroht wird. Es wäre überflüssig, die Enthaltung vorzuschreiben, gäbe es ein Recht des einzelnen Bundesratsmitglieds, durch abweichende Stimmabgabe die Ungültigkeit der Stimmen seines Landes herbeizuführen.
Dieses dem Grundgesetzkommentar von Maunz und Dürig und im Juli 2000 auch Polenz und Frau Merkel noch unbekannte Recht, von dem seine Inhaber in dreiundfünfzig Jahren nicht ein einzigesmal Gebrauch gemacht hätten, entdeckte der Bonner Rechtsprofessor Isensee. Welche Gründe gab der Gutachter der Union dafür, von einer nie bestrittenen Auslegung des Grundgesetzes abzugehen? Man möchte Isensees Theorie in ihrer Mischung aus Überscharfsinn und Oberflächlichkeit für ein Spätzeitprodukt halten und fühlt sich an die Furcht des Thomas Hobbes erinnert, die Interpretationskunst der Juristen zerstöre die Verbindlichkeit des Rechts. Wer Isensee folgt, sitzt einem Evidenzeffekt auf, den das Fernsehen herstellt. Im Bundesrat sitzen die Minister doch wirklich nebeneinander: Da soll es sich nicht um jenes "Parlament" handeln, das Koch in der Februarsitzung anredete?
Indem SPD und Grüne erläuterten, warum jedes Land im Bundesrat als Einheit in Erscheinung tritt, ohne beweisen zu müssen, daß man sich hinter den Kulissen wirklich einig ist, vertraten sie die Sache einer altmodischen Staatsweisheit: Auch in einer Mediendemokratie kann nicht jedes Staatsorgan parlamentarisiert, das hieße zum öffentlichen Austrag interner Konflikte genötigt werden. Der Wille der Union, einen Wahlbetrugsuntersuchungsausschuß zu errichten, drängt die Bundesregierung nun erneut in die undankbare Rolle, öffentlich die Arcana zu schützen. Unabhängig von der Frage, ob der Untersuchungsauftrag verfassungsgemäß wäre, steht fest, daß die Union das Einverständnis darüber aufgekündigt hat, was jedenfalls kein geeigneter Gegenstand für das inquisitorische Instrument ist. Erinnert man sich noch der Klage, im Parteispendenausschuß werde ein Schauprozeß inszeniert? Immerhin konnte er hartnäckige Schweiger und geständige Lügner vorladen. Was bedeutet es, daß man einen ökonomischen Umgang mit Informationen, der eine Sache der politischen Klugheit oder Dummheit ist, durch ein Gremium aufklären lassen will, das seine Arbeit gemäß der Strafprozeßordnung organisiert? Hat die Opposition die Hoffnung aufgegeben, noch einmal die Regierung zu stellen?
Es ist kein Zufall, daß Koch als Betreiber des Ausschußprojektes gilt. Wie er im Februar den Ansehensverlust des Bundesrates in Kauf nahm, so scheint ihm heute gleichgültig, daß nach Schließung der Wahlbetrugsakte niemand mehr glauben wird, daß ein Untersuchungsausschuß der Wahrheitsfindung dienen könne. Soll mit solcher Instrumentalisierung der Institutionen die bürgerliche Revolution in Deutschland beginnen? Ein Konservativer wird Koch oft genannt, doch konservativ wäre ein Gefühl dafür, daß nicht jedes Mittel recht ist. Schon einmal brachte es ein Ministerpräsident zum Bundeskanzler, der seine Verachtung von Formen und Üblichkeiten nicht verhehlte. Roland Koch ist der wahre Erbe von Helmut Kohl.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.12.2002, Nr. 282 / Seite 37
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