leserbeitrag aus faz
Die politisch-gesellschaftliche Diskussion in D. ist immer noch sehr stark von einem Axiom und daraus resultierenden normativen Anforderungen an das gesellschaftliche System gekennzeichnet:
Die Erfahrungen der deutschen Geschichte von 1929 bis 1945 dürfen sich unter keinen Umständen wiederholen. Hierin besteht ein allgemeiner Konsens, soweit unstreitig.
Als wesentliche Voraussetzung zur Erfüllung des Axioms ?Verhinderung eines neuen Dritten Reichs? werden in der politischen Diskussion ? mit leichten Akzentverschiebungen je nach Perspektive ? stets folgende Postulate genannt: - Sicherung eines allgemeinen Wohlstandniveaus - Geringes Wohlstandsgefälle - Sicherung der Sozialen Gerechtigkeit als höchstes Prinzip der political correctness - Konsenslösungen als vorherrschendes politisches Entscheidungsmodell
Ohne an dieser Stelle detailliert auf die Ursachen eingehen zu wollen (inzwischen jedermann bekannt: Demographische Entwicklung, Technologischer Fortschritt, Globalisierung der Finanz- und Gütermärkte), ist es inzwischen common sense, dass eine Reform unserer Steuer- und Sozialsysteme längst überfällig ist.
Ganz gleich, welche komplizierten Sachverhalte im Detail zu diskutieren sind, eine Reform unseres Sozialstaats läuft auf eine grössere Ungleichheit hinaus und ist zwangsläufig damit verbunden, dass es Verlierer geben, insbesondere unter den ärmeren Bevölkerungsschichten (im offiziellen Sprachgebrauch: sozial Schwächeren), den ? neben den Angehörigen kleiner, gutorganisierter gesellschaftlicher Gruppen - derzeitigen Haupt-Nutzniessern des gegenwärtigen Systems.
Spätestens an dieser Stelle kommt es jedoch zum Pawlowschen Reflex: Ob explizit genannt (zuletzt Lafontaine und die sich nun entwickelnde Diskussion) oder implizit abertausendfach, gebetsmühlenartig wiederholt, sind radikale Strukturänderungen des Gesellschaftssystems in D. tabu, da ja eine grössere Ungleichheit das ?Ende von Weimar? und das sich anschliessende Dritte Reich heraufbeschwören würde.
Die banale Konsequenz nun: systemimmanentes Denken verhindert wirksame Reformen der sozialen Sicherungssysteme.
Letztlich wird D. aber gerade dadurch stetig an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit verlieren, die entweder zu einem späteren Zeitpunkt umso radikalere Einschnitte notwendig macht, oder aber auf schleichendem Wege eine solche gesellschaftliche Stimmung hervorrufen könnte, die gerade das ermöglicht, was das Beharren auf dem deutschen Sonderweg eigentlich verhindern möchte: eine intolerante, nationalistisch ausgerichtete, undemokratische Herrschaftsform.
Was bietet sich nun als Alternative an: eine konsequente Gesellschaftsreform nach angelsächsischem Vorbild mit grösserer Ungleichheit, erheblichen Einschnitten in die ökonomischen Lebensgrundlagen Vieler und ? in der Übergangszeit - sehr hohen politischen Risiken. Aber: Langfristig bedeutet dies individuelle Freiheit und grösseren volkswirtschaftlichen Wohlstand, von dem auch die ärmeren Schichten wieder profitieren werden.
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