Europas Grenze entsteht nicht in Erdkundestunden, sondern in Verträgen
Von Michael Thumann
Besuch aus Deutschland: So viel geballte Berliner Prominenz hat die Türkei zuletzt in den späten dreißiger Jahren gesehen. Damals flohen politisch und rassistisch Verfolgte vor den Nazis in das ferne Land im Südosten Europas. Heute pilgern die deutsche Oppositionsführerin und der Kanzler nacheinander in die Türkei. Seit 17 Jahren strebt die Türkei nach Westen, in die Europäische Union. Ihr Drängen macht die Deutschen nervös. Und das beunruhigt die Türken.
Angela Merkel hatte am vorigen Montag in Ankara einen Koffer voller Beruhigungspillen dabei, die beim Auspacken leider schon das Verfallsdatum überschritten hatten. Eine ?privilegierte Partnerschaft? mit der Türkei, eine Freihandelszone, ein ?Dritter Weg? ? aber bloß keine Mitgliedschaft. Die Türken lehnten dankend ab.
Es sind kleinmütige Vorschläge. Sie wirken welk selbst im Vergleich zur Politik Konrad Adenauers. Einen Monat vor dem Rücktritt des Uraltkanzlers im Oktober 1963 unterzeichnete die EWG ein Assoziationsabkommen mit der Türkei. Dann stellte Ankara im Jahr 1987 einen Antrag auf EG-Mitgliedschaft. 1996 verband sich die Europäische Union mit der Türkei in einer Zollgemeinschaft. Seit 1999 ist Ankara offizieller Beitrittskandidat. Nichts außer einem Vertragsbruch könnte den Prozess umkehren.
Was also steckt hinter der Verzagtheit, die nicht nur Christdemokraten, sondern auch viele Sozialdemokraten überfällt, sobald die Türkei an Europas Tor pocht? Die Antwort ist: Angst. Angst um Europas Regierbarkeit. Angst um seine ausfransenden Grenzen. Angst vor einer fremden Kultur, dem Islam. Ist sie berechtigt?
Regierbarkeit: Es ist seltsam, dass sich diese Sorge ausgerechnet angesichts der Türkei regt. Sie hätte schon jener Osterweiterung gelten müssen, die vor über zehn Jahren begann. Damals saßen die Anwälte der Expansion in der CDU/CSU. Sie und ihre rot-grünen Nachfolger verloren die Prioritäten aus dem Auge. Kerneuropa nach Karolingermaß, die handlungsfähige Weltmacht Europa ? das ist vom 1. Mai 2004 an vorbei, wenn Polen & Co beitreten.
Europa mit Kern? Den müssten Berlin und Paris schon neu bilden. Sonst wird es eben eine Wirtschafts- und Rechtsunion mit wechselnden Allianzen sein, mit vielfältiger Außenpolitik und gleichen Steckdosen für alle. Warum also sollte die Türkei in diese verwässerte Union nicht hineinpassen? Sie ist ein traditioneller Freund Deutschlands, ein starker strategischer Bündnispartner, sie wird Europa in der Welt mehr Gewicht geben als die Neuen von 2004 im Paket. Ankaras Stimmrecht im Ministerrat aber dürfte nur 29 Stimmen betragen ? so viel wie Berlins.
Grenzen: Die Türkei hat vor 40 Jahren den ersten Vertrag mit den Europäern geschlossen. Seitdem die Türken ?Kandidaten? sind, schneidern sie Gesetze auf europäisches Maß zu. Das Militär zieht sich in die Kasernen zurück. Zu Recht orientiert sich Brüssel an messbaren Kriterien und nicht an beliebiger Kartografie. Niemand zwingt die EU, nach der Türkei mit Turkmenistan über einen Beitritt zu verhandeln. Oder mit dem neodiktatorischen Russland. Diese Länder teilen weder Werte noch Ziele der Union.
Islamistische Metamorphosen
Islam: Die Religion in der Türkei ist gemäßigter als der Islam in Deutschland oder Frankreich. Aus den Metamorphosen der türkischen Islamisten ist die Regierung Erdo˘gan entstanden. Sie führt vor, dass Islam und Demokratie besser zusammenpassen als Kemalismus pur und Demokratie. Toleranz gegenüber Kurden fällt muslimischen Konservativen leichter als kemalistischen Bürokraten. Die Türkei erlebt eine historische Umwälzung, getragen von der Aussicht auf den EU-Beitritt. Erdo˘gan will das anatolische Volk mit der westlichen Moderne aussöhnen. Da hilft Europas Rückendeckung.
Wenn Kanzler Schröder am Sonntag nach Ankara fährt, kann er Merkels ?Dritten Weg? getrost in der Requisitenkammer lassen. Er braucht nur einen Leitfaden: die Kopenhagener Kriterien. Erfüllt die Türkei diese, verdient sie im Dezember ein Datum für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen.
Im Übrigen wäre es keine Drohung, Ankara wissen zu lassen, dass Verhandlungen gelingen, aber auch scheitern können. Sie werden viele Jahre dauern und beide Seiten zu überfälligen Reformen zwingen. Die EU sollte ihren übersubventionierten Agrarmarkt umpflügen. Die Türkei muss den verarmten Südosten entwickeln, ihre Bürokratie aufbrechen, das Militär einhegen und umbauen. Wenn sie dann beitrittsreif ist, wird sie ein anderes Land sein als heute.
(c) DIE ZEIT 19.02.2004 Nr.9
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