»Sicherheitslage im Irak dramatisch verschlechtert« Bombenanschläge wie in London sind für die Iraker alltäglich. Selbstmordattentäter kosten nur 15000 Dollar. Ein Gespräch mit André Brie * André Brie ist Abgeordneter der PDS im Europäischen Parlament
F: Sie sind soeben aus dem Irak zurückgekehrt. Was hat sich dort seit Ihrem letzten Besuch vor vier Monaten geändert?
Erstens hat sich die Sicherheitslage dramatisch verschlechtert, vor allem im sunnitischen Landesteil. Aber auch in anderen Regionen wird es immer schlimmer, dort hausen Todesschwadronen und alle möglichen Milizen, es gibt viele Morde. Zweitens hat sich die soziale und wirtschaftliche Lage vor allem für Frauen und Kinder weiter verschlechtert. Die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor extrem hoch.
F: Aus dem Irak wird nahezu täglich von Anschlägen berichtet. Haben Sie selbst welche miterlebt?
Persönlich nicht. Am Dienstag war ich noch in Khalis ? kurz danach gab es dort einen Mord an 13 Zivilisten. Auch von den zehn Anschlägen, die es am Sonnabend in Bagdad gab, habe ich nichts bemerkt.
F: Wie fest sitzen die USA im Irak im Sattel?
Meiner Meinung nach stehen sie kurz vor dem Scheitern. Es gibt Anzeichen dafür, daß sie den schiitischen Süden und den kurdischen Norden fest in der Hand behalten wollen ? dort sind natürlich auch die Erdölvorkommen. Den Rest des Landes wollen sie offenkundig dem Bürgerkrieg überlassen.
F: Wie beurteilen Sie den Charakter der Anschläge ? sind das Attentate krimineller Banden, oder geht es um politisch motivierten und militärisch organisierten Widerstand?
Es ist eine Mischung widersprüchlicher Elemente: Einerseits gibt es natürlich echten Widerstand gegen die Besatzungsmächte. Zum anderen treten immer mehr Todesschwadronen auf, die unterschiedliche Zielen haben. Dazu zähle ich auch kurdische Extremisten, die außerhalb der großen kurdischen Parteien agieren. Am wichtigsten sind wohl die schiitischen Fundamentalisten, die das ganze Land übernehmen wollen. Sehr viele Anschläge haben einen ausschließlich kriminellen Hintergrund.
F: Werden die schiitischen Fundamentalisten vom Nachbarland Iran unterstützt?
Massiv und zum Teil sehr offen ? finanziell, politisch und auch militärisch. Das Badr-Korps z.B., eine große, militärische Organisation, die den gesamten Irak in die Hand bekommen will, wird eindeutig vom Iran unterstützt.
F: Man hört immer wieder von religiös motivierten Anschlägen ? sind die nicht eher darauf abgestellt, die Situation weiter zu eskalieren?
Das kann ein Europäer kaum einschätzen, es wird wohl eine Mischung aus religiösen und politischen Motiven sein. Inzwischen kann man für 15000 Dollar sogar einen Selbstmordattentäter kaufen. Der hat im Irak ohnehin keine Lebensperspektive mehr ? mit dem Geld können aber seine Schwester oder seine ganze Familie bis an ihr Lebensende versorgt werden.
F: Steht das Land erst vor einem Bürgerkrieg, oder ist es schon mittendrin?
Im Irak passiert jeden Tag das, was am 7. Juli bei den Bombenanschlägen in London geschah. Die europäischen Medien berichten aber bei weitem nicht über alle Anschläge, auch nicht über die vielen politischen Morde. Es wurden z.B. 160 Offiziere der früheren irakischen Streitkräfte umgebracht, vor allem Piloten. Hinter den Mördern sollen iranische Kräfte stehen, die sich für die Bombenangriffe im iranisch-irakischen Krieg 1980?1988 rächen wollen.
F: In welcher Lage sind Frauen und Kinder?
Bagdad bietet ein Bild der Verslumung und Vermüllung. Ständig fällt der Strom aus; wenn es mal Wasser gibt, dann ist es kaum genießbar. Noch mehr Kinder als früher sind krank, die Bildungschancen werden immer schlechter. Die schiitischen Fundamentalisten verdrängen die Frauen zunehmend aus dem öffentlichen Leben.
F: Welche Kräfte bieten überhaupt eine Perspektive für den Irak?
Es gibt dort immer noch eine starke Zivilgesellschaft mit Gewerkschaften, Frauenorganisationen, Kulturvereinen, Studentenorganisationen usw. Es gibt auch demokratische Parteien, die keine Instrumente des schiitischen Fundamentalismus des Iran sind. Aber sie alle werden von der UNO, der EU und der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen.
(Kwelle:jw)
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