Eine Polemik von Jens Jessen in der Zeit
Die schadenfrohe Fratze wird noch lange in Erinnerung bleiben, mit der die westdeutsche Provinz auf die Niederlage Berlins vor dem Verfassungsgericht reagierte. Kein Geld für die parasitäre Hauptstadt! Das war eine gute Nachricht. Kein Geld für den Hochstapler, der Bonn die Regierung weggenommen hat. Kein Geld für den Bruder Leichtfuß, der sich im Glanze von Opern, von Museen, Theatern, Debattenzirkeln sonnt, die er nicht bezahlen kann. Kein Geld für den Kuppler, der Ost und West zusammenführt, die nicht zusammengehören. Kein Geld für den schillernden Verführer der Jugend, der die Töchter in die Boheme der glücklichen Arbeitslosen lockt. Arm, aber sexy hat der Bursche sich genannt. Das war ein Fehler. Es sind immer die größten Fehler, die der Wahrheit am nächsten kommen. Arm, aber sexy ist genau die Charakterisierung eines Schwiegersohns, der ehrbare Bürger in ihren Albträumen heimsucht.Lange wird in Erinnerung bleiben, wie im Jahre 16 der Wiedervereinigung noch einmal das neiderfüllte Grundgefühl der alten Bundesrepublik sich gegen Berlin machtvoll entlud, als sei nichts geschehen, nichts gelernt worden, als habe keine Ernüchterung der Globalisierung einen Funken von sozialer Solidarität entzünden können. Denn Berlin ist in diesem Zusammenhang nur eine Metapher. Es geht nicht um Berlin, es geht um die Verlierer der Gesellschaft. Es geht um die Hand der eben noch Bessergestellten, die sich um die Brieftasche krampft. Deutschland hat, das ist wahr, in Zeiten des Wohlstands das Teilen gelernt. Es schickt sich aber an, in den anbrechenden Zeiten der Knappheit augenblicks wieder das Teilen zu verlernen.
Das geht freilich nicht von heute auf morgen. Noch ist der Anspruch der Armen auf staatliche Hilfe nicht bestritten (sie muss nur kleiner werden). Noch wollen die reichen Bundesländer die ärmeren unterstützen (es muss sich aber eingrenzen lassen). Entsolidarisierung ist etwas, das genauso gelernt werden will wie Solidarisierung. Dazu gehört als Erstes, den Gedanken der unverschuldeten Not aus den Köpfen zu kriegen. Deswegen ist es so wichtig, von Arbeitslosen recht oft zu sagen, dass sie gar keine Arbeit wollten. Deswegen müssen die Sparanstrengungen Berlins als kaum gemäßigte Verschwendung betrachtet werden. Vor allem aber müssen Armut und Not als Formen des Versagens, als natürliche Früchte mangelnden Ehrgeizes und Fleißes ausgegeben werdenBerlin ist der Florida-Rolf unter den deutschen Bundesländern. Erinnern wir uns noch an die Gestalt, mit der die Bild-Zeitung seinerzeit die Hartz-Reform propagierte? Frech und faul und braun gebrannt: Das war Florida-Rolf, wie er sich mit deutscher Sozialhilfe ein schönes Leben unter Palmen machte. Die wirkliche Geschichte der wirklichen Person ist längst vergessen. Aber das Muster des arbeitslosen Anspruchsdenkens hat sich eingeprägt. Genau nach diesem Muster schien der westdeutschen Provinz Berlins Auftritt vor dem Verfassungsgericht zu geschehen. Die Stadt, die von unserem über den Länderfinanzausgleich perfide umverteilten Steuergeld lebt. Die nicht arbeitet, aber klagt und heimlich prasst. Die den Wohlstand anderer will und selbst keinen Ehrgeiz entwickelt. Faul und unerziehbar wie die Unterschicht, deren empörende Existenz wir gerade entdecken.Und in der Tat musste man nicht einmal genau hinhören, um in dem hasserfüllten Geifern gegen Berlin die gleichen Stichworte zu finden, mit denen die Debatte um die neue Unterschicht geführt wird. Der Stadt geht es noch viel zu gut! Allein für Kultur gibt sie mehr aus als Hamburg. Wie kann es angehen, dass ein Armer sich mehr gönnt als ein Reicher? Selbst das florierende Baden-Württemberg muss, um den Staatshaushalt zu sanieren, kostbare Handschriften verkaufen. Und Berlin will drei Opernhäuser behalten? Hält sich die Stadt am Ende für was Besseres?
Nichts könnte für den neiderfüllten Egalitarismus, der die Raison d?être der alten Bundesrepublik war, anstößiger sein als dieser Verdacht. Deshalb war die bloße Idee einer Hauptstadt schon anstößig und konnte nur kompensiert werden durch die Erbärmlichkeit Bonns als Regierungssitz. Wer seinerzeit aus den Residenzen München oder Stuttgart nach Bonn fuhr, konnte eigentlich nur lachen; und dieses Lachen tat sehr gut. Dagegen Berlin, das schon durch schiere Größe und die Erinnerung an Preußen ein Gefühl von Demütigung erzeugte ? das tat nicht gut. Und nun will dieses Berlin, anstatt sich mit dem Hauptstadtstatus zu bescheiden, ausgerechnet dafür noch einen Ausgleich? Auf die Frechheit noch eine Prämie für Faulheit obendrauf? In der Haltung der Stadt steckt für die südwestdeutsche Perspektive etwas empörend Enthemmtes; nicht unähnlich der Lebensweise der Langzeitarbeitslosen, die es sich mit einer Flasche Bier vor dem Fernseher bequem machen. Lange wird in Erinnerung bleiben, wie im Jahre 16 der Wiedervereinigung noch einmal das neiderfüllte Grundgefühl der alten Bundesrepublik sich gegen Berlin machtvoll entlud, als sei nichts geschehen, nichts gelernt worden, als habe keine Ernüchterung der Globalisierung einen Funken von sozialer Solidarität entzünden können. Denn Berlin ist in diesem Zusammenhang nur eine Metapher. Es geht nicht um Berlin, es geht um die Verlierer der Gesellschaft. Es geht um die Hand der eben noch Bessergestellten, die sich um die Brieftasche krampft. Deutschland hat, das ist wahr, in Zeiten des Wohlstands das Teilen gelernt. Es schickt sich aber an, in den anbrechenden Zeiten der Knappheit augenblicks wieder das Teilen zu verlernen.
Das geht freilich nicht von heute auf morgen. Noch ist der Anspruch der Armen auf staatliche Hilfe nicht bestritten (sie muss nur kleiner werden). Noch wollen die reichen Bundesländer die ärmeren unterstützen (es muss sich aber eingrenzen lassen). Entsolidarisierung ist etwas, das genauso gelernt werden will wie Solidarisierung. Dazu gehört als Erstes, den Gedanken der unverschuldeten Not aus den Köpfen zu kriegen. Deswegen ist es so wichtig, von Arbeitslosen recht oft zu sagen, dass sie gar keine Arbeit wollten. Deswegen müssen die Sparanstrengungen Berlins als kaum gemäßigte Verschwendung betrachtet werden. Vor allem aber müssen Armut und Not als Formen des Versagens, als natürliche Früchte mangelnden Ehrgeizes und Fleißes ausgegeben werden.Die Individualisierung von Erfolg und Niederlage ist der wichtigste Baustein zur neuen Mitleidlosigkeit. Der Gedanke an Ungerechtigkeiten, die außerhalb persönlicher Verantwortung liegen, wenn nicht gar im System des Kapitalismus, gilt bestenfalls als antiquiert. Lieber spricht man von mangelnden Leistungsanreizen. Übrigens soll auch der globalisierte Wettbewerb nur zur äußeren Rechtfertigung von Massenentlassungen dienen. Der gekündigte Einzelne muss lernen, die Verantwortung für seine Überflüssigkeit bei sich selbst zu suchen.
Es ist überaus erhellend, die Unterschichtendebatte mit der Rede von der neuen Bürgerlichkeit zusammenzubringen. Wer die Wortführer näher betrachtet, wird unweigerlich auf die hässliche Figur des Aufsteigers stoßen, der die Tür hinter sich zuschlagen will. Nichts ist irreführender als die Bemerkung, den Unterschichten fehle es an Ehrgeiz. Vielmehr ist es dieser Ehrgeiz, der den Verteilungskampf in einer bedrohten Mittelschicht anheizen könnte und deshalb absichtsvoll entmutigt oder wenigstens beschwörend hinweggeredet werden muss.http://www.zeit.de/2006/44/Berlin
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