Was ich bis vor dreißig Minuten nicht verstanden habe, ist mir nach dem Lesen des unten beigefügten Textes klar geworden. Ich bin (trotzdem noch) immer der Ansicht, dass, wenn Rabin nicht ermordet worden wäre, dies langfristig nur zum Vorteil für Israel gewesen wäre. Aber nun verstehe ich die Zusammenhänge besser.
Rabin hat sich im Laufe seines Lebens sehr gewandelt ("Zerschmettert ihnen die Knochen"). Seine Lebenserfahrung wird wohl dazu geführt haben. Auch die Einsicht, dass nur ein friedliches Nebeneinander mit seinen Nachbarn die Existenz Israels in Zukunft sichern würde. Rabin und die Vollstrecker der Torah
Der israelische Filmemacher Amos Gitaï stellte auf dem 1996er Filmfestival von Locarno sein Doku-Drama The Arena of Murder (Die Arena des Mordes) vor, in welchem er Israels Winter nach der Ermordung Rabins zeigt. Auch dessen Witwe, Lea Rabin, kommt vor. Sie fühle keinen Haß, sagt sie im Film, nur Kummer, "und wenn Zorn, dann nur auf die Gedankenwelt, in der diese Gewalt wuchs, und auf jenes politische System, das ihn (Rabin) einen Mörder und Verräter nannte, der das Land verkaufe. Denn da das Land wertvoller ist als das Leben eines Menschen, wurde damit der Mord zu einem Muß." Rabins Ziel war es, sagt seine Witwe, "daß Israel, auch auf verkleinertem Territorium, von Frieden umgeben sein werde." "Das Land aber, das der Filmemacher durchquert, ist von Zerstörung geprägt, von Krieg", schreibt die Basler Zeitung.
Daß Yizhak Rabin und Simon Peres es wagten, diese Träume von Groß-Israel mit ihrer Politik zu vereiteln, wurde ihr Verhängnis. Siedlerführer griffen sie verbal an, beschimpften sie als Verräter und verglichen sie mit Nazi-Schergen - die schlimmste Beleidigung, die man einem Juden zufügen kann. "Judäa und Samaria", lautete ihr Schwur, "werden niemals wieder judenrein." Dreißig Tage vor seinem Tod sprach Ministerpräsident Rabin in seiner letzten Knesset-Rede etwas aus, was bis dahin absolutes Tabu gewesen war: "'Wir kamen nicht in ein leeres Land!' waren seine Worte, die ein hundert Jahre altes Dogma zerbrachen", reportiert Uri Avnery im Spiegel. Es ist nämlich ein zionistischer Glaubensartikel, daß Palästina ein leeres Land war, als die moderne jüdische Einwanderung 1882 begann, und daß erst die Juden die Wüste zum Blühen brachten. Dabei hatte sogar Rabin in seinen Memoiren gestanden, daß er 1948 nach der Eroberung der arabischen Städte Lydda und Ramla 50'000 Bewohner mit der Waffe vertrieben habe - und er bestätigte auch, daß eine ethnische Säuberung stattgefunden habe.
Uri Avnery berichtet, Rabin habe als Verteidigungsminister in den ersten Tagen der Intifada die unheilvollen Worte ausgestoßen: "Brecht ihnen die Knochen!" Die Soldaten hätten das wörtlich genommen und Hunderten von Palästinensern, auch Alten und Kindern, Arme und Beine zerschmettert. "Rabin war kein Rabbiner, der auf dem Weg nach Damaskus plötzlich vom Saulus zum Paulus wurde", schreibt Avnery.
Dennoch versammelten sich anfangs Oktober 1995 vor dem Wohnhaus Rabins einige schwarzgekleidete Männer, um das Pulsa Denura zu beten, die biblische Verwünschung. Rabbi Awigdor Askin bat darum, den ‚Verfluchten' doch endlich sterben zu lassen - und er tat es vor dessen Türschwelle. Die fanatischen Frommen nahmen dabei gemäß dem orthodoxen Ritus in Kauf, daß auch einer von ihnen - gewissermaßen als ausgleichende Gerechtigkeit - sein Leben lassen müsse, sollte Gott ihr Gebet erhören. Kurz danach, am Morgen nach dem jüdischen Fest Jom Kippur am 4. Oktober 1995, tauchten in den Synagogen Flugblätter mit einem Gebet auf, in dem die Engel des Todes' aufgefordert wurden, Rabin von dannen zu nehmen, ,weil er das Gelobte Land seinen Feinden ausliefert'.
Wie die Ereignisse uns lehren, wurde der Fluch erhört. Der ‚Todesengel' trug den Namen Yigal Amir. Yigal heißt auf Deutsch soviel wie ,Er wird erlösen'!
Für den Friedensaktivisten und strenggläubigen Juden Avraham Burg war es denn ganz klar auch "kein politischer Mord - es war ein religiöser Mord." Daran ließ auch der Täter selbst keinen Zweifel. Amir erklärte nach dem Mord, "Alles, was ich tat, tat ich für Gott, für die Torah von Israel, das Volk von Israel und das Land Israels." Er habe aus göttlicher Gerechtigkeit gehandelt, da die Regierung Rabin im Westjordanland und im Gazastreifen , biblisches Land' an die Palästinenser abgetreten habe. In einem der Verhöre sagte er, er habe den Mord als klar denkender, ‚normaler Mensch' begangen. Im archaischen Regelwerk des jüdischen Rechts hatte Amir ein uraltes Gesetz gefunden, das Din Rodef'. Danach entspricht es Göttlichem Willen, einen Verräter zu töten, der anderen Juden den Tod bringt. Diesem Gesetz fühlte sich der Attentäter verpflichtet, und daß ihm die Tat gelingen konnte, empfand er erst recht als ‚Fingerzeig Gottes'. Psychologen, die den jugendlichen Mörder untersuchten, kamen zum Schluß, daß er keinerlei Anzeichen von Geistesgestörtheit aufweise und überdurchschnittlich intelligent sei.
Schon der große jüdische Rechtsgelehrte Maimonides hatte im 12. Jahrhundert geschrieben, daß ein Verräter in den eigenen Reihen getötet werden müsse. Der radikale Rabbi Avraham Hecht aus Brooklyn/New York hatte im Vorfeld des Mordes Rabin mit diesem jüdischen Gelehrten verbal gedroht: "Ich sage mit Maimonides: Wer ihn tötet, tut eine gute Tat."
Rabbi Scholomo Aviner, Haupt einer religiösen Schule in Jerusalem, stellte fest, daß der Rabin-Mörder mit seiner Ansicht keineswegs allein dagestanden sei. "Die Studenten stellten jeweils die Frage - so, wie sie zum Beispiel fragten, welches Essen man am Sabbat zu sich nehmen dürfe - ‚Ist es in Ordnung, unter Torah-Gesetz den Premierminister zu töten?' - Jeder sprach über Gewalt. Es gab Hunderte wie Amir." Für die orthodoxen Juden gibt es nur ein Gesetz, das für den Staat Israel Gültigkeit haben kann, und das ist ‚Gottes Gesetz' - die Torah. Yehiel Leiter, Sprecher der 140'000 jüdischen Siedler im Westjordanland, äußerte nach dem Rabin-Mord: "Was wir ersehnen, ist kein säkularer zionistischer Staat, sondern unser biblisches Land, wo nach der Torah gelebt wird." Abraham Shapira, einer der Mitbegründer der Rabbinervereinigung für ‚Erez Israel' (Israel in biblischen Grenzen) war früher Oberrabbiner Israels. Er erklärte: "Gegen das Religionsgesetz verstoßende Beschlüsse einer weltlichen Regierung können keinen Juden verpflichten." Die talmudischen Auslegungen der Torah zum Thema ,Töten' weichen in einigem von dem ab, was westliche Rechtsstaaten als Recht und Unrecht empfinden. Man muß diese Gesetze in Betracht ziehen, um das Verhältnis jener ultraorthoxen Juden zum Töten verstehen zu können.
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