Statistik-Lügen
Die Erfindung der virtuellen Konjunktur
Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast. Diese Binsenweisheit gilt besonders für die offiziellen US-Zahlenreihen. Unser Kolumnist schreibt, wie in den USA mit Statistik Stimmung gemacht wird. Von Michael Schramm
Zwei Zahlen haben in den vergangenen Wochen die Berichterstattung über die Vereinigten Staaten von Amerika dominiert: Am 17. Oktober kam der 300-millionste Einwohner zur Welt. Zwei Tage später schloss der Börsenindex Dow Jones erstmals bei mehr als 12 000 Punkten.
Doch bei diesen Zahlen ist Vorsicht geboten. Der 300-millionste Bürger der USA wurde wahrscheinlich bereits vor Monaten geboren. Denn in den USA leben elf bis zwölf Millionen illegale Einwanderer, die in den offiziellen Statistiken nicht auftauchen. Und auch der Rekordstand beim Dow spiegelte nur die halbe Wahrheit wider. Schließlich notierten rund zwei Drittel der 30 Indexwerte zu diesem Zeitpunkt 15 Prozent oder mehr unter ihren alten Rekordständen.
Wie in keinem anderen Land der Welt wird in den USA mit Zahlen und Statistiken Stimmung gemacht, damit die Konsumenten die Wirtschaft und indirekt die Börse weiter anheizen. Eine Heerschar von Volkswirten und Analysten souffliert Joe Sixpack, dem amerikanischen Verbraucher, ob er noch mehr Geld ausgeben kann als bisher, oder ob er den Gürtel enger schnallen muss. Doch nicht die Fakten selbst zählen. An den amerikanischen Finanzmärkten dominieren Stimmungen. Somit kommt es darauf an, das Datenmaterial der Statistiker richtig zu interpretieren.
Ein Beispiel: Die Inflationsrate für August wurde mit 0,2 Prozent ausgewiesen. Die Märkte hatten mit 0,3 Prozent gerechnet. Die Entwarnung an der Inflationsfront wurde mit einem kräftigen Plus am Aktienmarkt goutiert. Tatsächlich waren die Preise um 0,24 Prozent gestiegen, was korrekt auf 0,2 Prozent abgerundet wurde. 0,01 Prozent entschieden über Hausse oder Baisse.
Tatsächlich beruhen die offiziellen Inflationszahlen in den USA auf einer so genannten hedonistischen Berechnungsweise. Dies bedeutet, dass Verbesserungen bei den Gebrauchswerten der Waren als Preisrückgang verbucht werden. Verdoppelt ein Computer seine Leistungsfähigkeit, wird der angesetzte Wert halbiert. Der tatsächliche Preis spielt keine Rolle. Die Inflationszahlen werden, Experten zufolge, so um mindestens 1,5 Prozentpunkte nach unten manipuliert.
Unterschiedliche Signale kommen auch vom Arbeitsmarkt. Die Zahl neu geschaffener Arbeitsplätze wurde für April 2005 bis März 2006 überraschend um 800 000 nach oben korrigiert. Gemäß des mittlerweile "Hoppla-Bericht" genannten Reports des US-Arbeitsministeriums entstanden somit in den vergangenen drei Jahren 6,6 Mio. neue Arbeitsplätze, statt 5,8 Mio. neuen Stellen wie bislang angenommen.
Die Jobmaschine läuft also anscheinend auf Hochtouren. Tatsache ist aber auch, dass nur derjenige als arbeitslos registriert wird, der sich aktiv um einen Job bemüht. Menschen, die sich nicht mehr für einen Arbeitsplatz bewerben, fallen aus der Statistik heraus. Die Zahl dieser "frustrierten Arbeitslosen" wird auf bis zu fünf Millionen geschätzt.
Demnach hätten die USA keine Vollbeschäftigung, sondern eine Arbeitslosenrate fast auf deutschem Niveau. Kann Joe Sixpack aufgrund der vermeintlichen Vollbeschäftigung nun einen höheren Lohn durchsetzen, oder benötigt er nach Feierabend einen Zweitjob, um seine Existenz finanzieren zu können?
Auch die Einkommen der privaten Haushalte berechnen die amerikanischen Statistiker auf eine - gelinde gesagt -interessante Weise. Den Konsumenten werden Waren und Dienstleistungen, die sie kostenlos zur Verfügung gestellt bekommen, als Einkommen zugerechnet. Wer beispielsweise in seinen eigenen vier Wänden wohnt und somit keine Miete zahlt, erhält ein Mieteinkommen hinzugerechnet. Das Volumen dieser zugerechneten Einkommen beläuft sich nach Expertenmeinungen auf mehrere Hundert Milliarden US-Dollar pro Jahr. Da kann sich Joe Sixpack schon einmal fragen, ob er in einem der prosperierendsten Länder der Welt lebt, oder ob die Konjunktur seit Jahren vielleicht auf der Stelle tritt.
Im Grunde genommen kommt es aber gar nicht darauf an, wie gut oder schlecht es Joe Sixpack geht. Viel wichtiger ist es, wie er sich fühlt. Nicht die Fakten, sondern die Stimmungsschwankungen der Verbraucher zählen an der Wall Street. Diese gilt es in den kommenden Monaten genau zu beobachten.
Der Autor ist Partner bei Hauck & Aufhäuser
Artikel erschienen am 18.11.2006 http://www.welt.de/data/2006/11/18/1114705.html
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