Die wichtigste Ausfallstrasse vom Zentrum der paraguayischen Hauptstadt Asunción in Richtung der reicheren Aussenquartiere, die Avenida Mariscal López, ist eine von wohlhabenden Menschen in ihren schönen Autos viel befahrene Strasse. Die potenzielle Kundschaft zieht Händlerinnen und Händler an. Sie verkaufen inmitten der Autokolonnen zum Beispiel Früchte, die in Körben schön präsentiert sind. Zeitungen sind im Angebot, andere nützliche Dinge auch.
Weniger schön ist der Anblick eines verkrüppelten Mannes jüngeren Alters, der mangels funktionierender Beine sich auf seine Arme stemmt, um auf dem Mittelstreifen vor einem Lichtsignal hin und her robben zu können. Je nach Stau wendet er sich auf die eine oder andere Seite. Die Knie hat er geschützt mit zwei Segmenten von schmalen Pneus, vermutlich von einem kleinen Motorrad. Den Kopf gereckt, erreicht er kaum die Höhe des Türgriffs der schönen Geländewagen, die da stehen. Die meisten abgedunkelten Scheiben bleiben zu. Dahinter herrscht «das Klima des weissen Mannes», für diese Breiten unnatürliche Kälte, wie Jerry Rawlings, damals Präsident von Ghana, es einst nannte.
Doch insgesamt muss es sich lohnen, dort in den Abgasen und in der paraguayischen Hitze zu betteln, sonst wäre der Behinderte nicht dort. Und er ist nicht der einzige. An einer Kreuzung näher beim Zentrum schiebt eine Alte einen Rollstuhl zwischen den Kolonnen auf und ab, in dem ein körperlich und offensichtlich auch geistig behinderter Mann sitzt. Er füllt kaum den Sitz des Stuhls aus, sein Kopf baumelt. An wieder einer anderen Gabelung ist es ein junger Mann, der einen Knaben im Rollstuhl präsentiert, um die Mitmenschen hinter den dunklen Scheiben zu einem Almosen zu bewegen.
Dies erinnert mich an ein Erlebnis an der Brücke zwischen San Antonio de Táchira und Cúcuta, die Venezuela und Kolumbien über einen Fluss hinweg verbindet. Dort sass ebenfalls eine Gestalt zwischen den Autokolonnen, deren Anblick mich schlug. Er war nicht behindert, aber entsetzlich verwahrlost. Nachfragen ergab, dass es in junger Mann war, der dem Rauschgift verfallen war, in die Kriminalität abrutschte, im Gefängnis in schlechte Gesellschaft geriet und den Weg zurück nicht mehr fand.
Ich sah zu ? es war Sonntagabend und viel Verkehr ? wie jemand anhielt, um dem Mann, der in der Strassenmitte kauerte, ein Almosen zu geben. Die Fahrerin des Autos dahinter begann sofort zu hupten. Es war unmöglich, dass sie nicht sah, warum der Vordermann die Kolonne zum Stehen gebracht hatte. Anderswo in Venezuela, in Coroní an der Karibiküste, beobachtete ich, wie ein Mann in einem Geländewagen zu faul war, um in einem Bogen um einen Hund zu fahren, der ? alle Viere von sich gestreckt ? in der Morgensonne auf dem warmen Asphalt der Strasse lag. Der Kerl am Steuer fuhr dem Tier einfach über die Läufe.
Ich könnte noch viele Beispiele hinzufügen, etwa, dass es in Argentinien ? immerhin einem Land mit einer Mittelschicht ? keinen Bessergestellten kümmert, ob die Kinder der Armen regelmässig zur Schule gehen oder ob sie nachts arbeiten, um den Kehrricht eben dieser Mittelschicht in den Strssen von Buenos Aires nach Brauchbarem zu durchwühlen.
Der Umgang unter Bewohnern dieser Breiten ? und für Fremde mit diesen Bewohnern ? im Privaten ist wunderbar herzlich, offen, unkompliziert und findet oft im Rahmen zeitlich unbegrenzter Verfügbarkeit statt. Im Öffentlichen, Anonymen hingegen herrscht eine gnadenlose Hackordnung. Jeder und jede tritt nach unten. Diese Hackordnung ist akzeptiert, auch dort, wo die Distanz zwischen Oben und Unten obszön gross ist. Daher herrscht in Südamerika nirgendwo revolutionäres Klima oder eine vor-revolutionäre Situation, wie viele Träumer in fernen Landen wähnen.
Ich verstehe also Hugo Chávez, den Präsidenten von Venezuela, der Armut und Ungerechtigkeit den «Oligarchen» anlastet, jener Klasse Reicher und Mächtiger, die in Venezuela und anderswo während Jahrzehnten oder fast schon Jahrhunderten den Ton angegeben haben. Die Angehörigen dieser Klasse fahren ? Raum für Ausnahmen sei zugestanden ? an Krüppeln, Bettlern und Pechvögeln aller Art vorbei, nicht so sehr, glaube ich, aus Gefühlskälte oder Zynismus, sondern aus einem dramatischeren Grund: Diese Leute leben subjektiv in einer anderen Welt. Was sie auf der Strasse sehen, betrifft sie nicht. Das ist, mit Goethe zu reden, weit hinten in der Türkei, lies, auf einem andern Planeten. Berührungspunkt beider Welten sind Dienstboten und Angestellte.
Das Problem ist, dass sich Chávez auf seine Weise genau so verhält, wie jene, die er kritisiert. Er sieht sie als bedrohliche Ausserirdische, Unmenschen im Wortsinn, nicht als Personen, die vielleicht im Irrtum leben und für eine bessere, weil gemeinsame Sache zu gewinnen wären. Er strahlt die gleiche Verachtung für die Oligarchen aus, wie diese für ihn bezeugen. Daher wird er scheitern, wie alle Caudillos, alle Diktatoren vor ihm. Er ändert nicht das System, sondern wechselt die Personen aus. In erfolgreichen Gesellschaften sind die Institutionen wichtiger als die Personen. Der Erfolg ist messbar: Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, Armutsquote, Prokopf-Einkommen, Verteilung von Einkommen und Reichtum, um nur die simpelsten zu nennen.
Es gibt keine langfristig erfolgreichen Gesellschaften, denen nicht ein Rechtsstaat zugrunde läge. Nichts ist so effizient, um Gleichheit ? gleiche Chancen für möglichst viele ? zu schaffen wie das Gesetz, sofern es für alle ? möglichst viele ? gilt. Darum wandern Millionen von Lateinamerikanerinnen und Lateinamerikanern in die Vereinigten Staaten aus, und nicht eine einzige und nicht ein einziger nach Kuba.
http://www.nzz.ch/magazin/dossiers/...chavez_verstehen__1.696984.html
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