Von Nicole Adolph, Hamburg
Sozialhilfeempfänger haben oft ein höheres Einkommen als arbeitende Angestellte.
Die Kohl-Regierung argumentierte Anfang der Neunziger Jahre noch, es gebe keine Armut in Deutschland, da jedermann Sozialhilfe zustehe, die wiederum Armut verhindere. Diese Position hat dazu geführt, dass in Gutachten, die früher im Auftrag der damaligen Bundesregierung erarbeitet wurden, der Begriff "Armut" nicht auftauchen durfte, sondern nur der weniger stark emotional besetzte Begriff "Niedrigeinkommen".
Der jetzt veröffentlichte erste staatliche Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung beruht auf der Erkenntnis, dass es keine allgemein akzeptierte Definition von Armut gibt. Der Bericht der Bundesregierung lehnt sich allerdings an die Formulierung des EG-Rats von 1984 an. Dieser definierte Menschen und Familien als arm, "die über so geringe Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in einem Land als Minimum annehmbar ist." Was ein "Minimum der Lebensweise" bedeutet, ist dabei völlig offen. Je nach Berechnungsweise schwankt die Zahl der einkommensarmen Personen in Deutschland (im Jahr 1998) zwischen acht und 15 Prozent.
Knapp drei Millionen Sozialhilfeempfänger
Die meisten einkommensarmen Personen sind Sozialhilfeempfänger. 1998 lebten der Studie der Bundesregierung zufolge 2,88 Millionen Menschen von Sozialhilfe, darunter 1,1 Millionen Kinder. Die Höhe der Sozialhilfe fällt allerdings sehr unterschiedlich aus. Zum einen differiert der Eckregelsatz in den einzelnen Bundesländern. Er schwankt zwischen 525 DM (in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Thüringen) und 551 DM monatlich (in Hessen und Baden-Württemberg). Im Durchschnitt liegt der Satz derzeit bei 549 DM. Dazu kommen Mehrbedarfszuschläge für werdende Mütter, Alleinstehende mit Kleinkind, Rentner, Behinderte sowie für Kranke und Genesende. Außerdem können Einmalzahlungen dazukommen, zum Beispiel für Kleidung, Möbel, Bettwäsche, Babysachen oder einen Umzug.
Inklusive Mehrbedarfszuschlägen erhält ein Sozialhilfeempfänger unter Umständen mehr als ein gering verdienender Angestellter. Einer Modellrechnung des "Spiegel" zufolge bezieht ein Verheirateter mit zwei Kleinkindern 2818 DM Sozialhilfe monatlich. Sie setzt sich aus der Hilfe zum Lebensunterhalt und den Wohnungskosten zusammen. Legt man dieselben Familienverhältnisse zugrunde, verdient so mancher Angestellter weniger als der Sozialhilfeempfänger - selbst wenn man das Kindergeld dazurechnet. Ein Lagerist verdient inklusive Kindergeld im Schnitt 1900 DM netto, ein Friseur 2300 DM und ein Gebäudereiniger 2730 DM. Knapp über dem Betrag des Sozialhilfeempfängers liegt das Gehalt eines Schuhverkäufers, der - inklusive Kindergeld - 3059 DM netto zur Verfügung hat. Dahinter rangieren Anstreicher mit einem Nettoverdienst von 3419 DM und Drucker mit 3608 DM netto.
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