Nach der Beerdigung des am 1. April verstorbenen früheren Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Dr. Hans Filbinger, ist der Streit um dessen Tätigkeit in der Marinejustiz während des Zweiten Weltkrieges wieder voll entbrannt. Ministerpräsident Günther Oettinger hatte auf der Trauerfeier über seinen Amtsvorgänger gesagt: „Hans Filbinger war kein Nationalsozialist.“ Der Zentralrat der Juden erklärte daraufhin, Oettinger sei wie Filbinger „unbelehrbar“. Zentralrats-Präsidentin Charlotte Knobloch zeigt sich „schockiert und entsetzt“ und sprach von einer „Perversion der geschichtlichen Wirklichkeit“. Zentralrats-Vizepräsident Dieter Graumann sagte: „Ich finde die Äußerung grauenhaft und sie transportiert auch die falsche Botschaft, sie bemäntelt die doch vorhandene Schuld eines Mannes wie Hans Filbinger.“ Die „Grünen“ warfen Oettinger „Verklärung der Geschichte“ vor. Der Schriftsteller Rolf Hochhuth, der Filbingers Tätigkeit in der Marinejustiz 1978 öffentlich gemacht hatte, nannte diesen einen „sadistischen Nazi“. Ralph Giordano verlangte sogar den Rücktritt Oettingers vom Amt des Ministerpräsidenten. Oettinger hat in seiner Trauerrede wörtlich ausgeführt: „Hans Filbinger hat mindestens zwei Soldaten das Leben gerettet. Einer von ihnen, Guido Forstmeier, weilt noch heute unter uns und kann bezeugen, dass sich Filbinger damals großer Gefahr ausgesetzt hat.“ Die NATIONAL-ZEITUNG interviewte daraufhin den von Ministerpräsident Oettinger genannten Kronzeugen: Guido Forstmeier, Oberleutnant a. D., hatte im Frühjahr 1945 wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ ein Todesurteil zu befürchten. Anklagevertreter war damals Dr. Hans Filbinger. Hilfe unter hohem eigenen Risiko National-Zeitung: Herr Forstmeier, wie kam es zu Ihrer Verhaftung wegen Wehrkraftzersetzung gegen Ende des Zweiten Weltkrieges? Forstmeier: Es kam dazu, weil ich meinen Mund nicht halten konnte. Als Kompaniechef in Hammerfest in Nordnorwegen hatte ich zwei Oberfeldwebeln, denen ich vertraute, meine Auffassungen über den Krieg und Politik dargetan, die in folgenden Feststellungen gipfelten: „Hitler ist ein Verbrecher, Göring ein Scharlatan und Goebbels ist ein Lügenmaul.“ Der Krieg sei verloren, der „Iwan“ sei schon auf dem Sprung nach Westen. Die beiden Feldwebel, die SA-Sturmführer und fanatische Nationalsozialisten waren, haben mich denunziert. Sie hatten meine Äußerungen zu Papier gebracht und der geheimen Feldpolizei übergeben. National-Zeitung: Wie kam es zu Ihrer ersten Begegnung mit Dr. Hans Filbinger? Forstmeier: Dr. Filbinger war der Untersuchungsführer vom Marinegericht in Tromsö. Nach Erledigung der Formalitäten bei der ersten Vernehmung entließ er seine Mitarbeiter und sagte mir unter vier Augen mit leiser Stimme: „Herr Forstmeier, wenn sie zu mir volles Vertrauen haben, will ich versuchen, Ihnen zu helfen.“ National-Zeitung: Was hat Dr. Filbinger konkret unternommen, um Ihnen zu helfen? Forstmeier: Dr. Filbinger sagte mir, dass wegen des Umfangs und der Schwere der Belastung ein Todesurteil nicht zu verhindern sei. In den Akten waren mehrere Punkte rot unterstrichen, die nach der Rechtsprechung des Oberkriegsgerichtsrates jeweils zu einem Todesurteil hätten führen können. Ich hatte zum Beispiel als Kompaniechef verboten, bei öffentlichen Anlässen das Horst-Wessel-Lied zu singen. Auch den Hitler-Gruß hatte ich untersagt. Ich war kein Nationalsozialist, sondern deutscher Patriot. Filbinger sah nur den Weg, durch geeignete Maßnahmen soviel Zeit wie möglich zu gewinnen. Voraussetzung sei, dass ich ihm qualifizierte Zeugen nennen könne, die auch in schwierigster Situation nicht versagen würden. Ich war mir ganz sicher, diese Zeugen benennen zu können. Aber die Zeugenaussagen alleine hätten zu meiner Rettung nicht ausgereicht. Da kam Dr. Filbinger auf einen genialen Gedanken: „Können Sie völlig ausschließen“, fragte er die Denunzianten, „dass Ihr Kompaniechef Sie lediglich auf ihre politische Standfestigkeit prüfen wollte?“ Die beiden Feldwebel waren offenbar auf eine solche Reaktion nicht gefasst. Also diktierte Dr. Filbinger ins Protokoll: „Ich kann natürlich nicht ausschließen, dass unser Kompaniechef Forstmeier seine Äußerungen nur machte, um unsere Standfestigkeit zu prüfen.“ Diese Aussage wurde von den beiden Denunzianten unterschrieben. Damit war der Sache die entscheidende Wende gegeben. Darüber hinaus hat Dr. Filbinger die Akten nach Nordfrankreich an die Standorte verschiedener Zeugen geschickt, um Zeit zu gewinnen. Das gelang, erst fünf Monate später fand die Hauptverhandlung gegen mich statt, und die Kriegslage war so, dass jeder mit einem baldigen Ende rechnete. National-Zeitung: Kam es dann überhaupt noch zu einem Urteil? Forstmeier: Kurz vor der Hauptverhandlung Anfang März 1945 platzte zunächst noch eine Bombe: Dr. Filbinger wurde versetzt und es kam ein neuer Ankläger. Alles stand plötzlich wieder auf des Messers Schneide. Im Prozess verlor der neue Anklagevertreter wegen der von Dr. Filbinger gewollten Widersprüchlichkeit aller Aussagen die Nerven. Er warf das ganze Paket der Zeugenaussagen auf den Richtertisch mit den Worten: „Dieses ganze Lügenpaket ist wertlos!“ Das Gericht zog sich zurück. Eine Neuverhandlung mit neuen Zeugen stand im Raum. Nach langer Wartezeit entschloss sich das Gericht letztlich doch zu einem Urteil: Degradierung zum Matrosen und Haftstrafe mit Bewährungsprobe an der Front, zu der es dann allerdings wegen des Kriegsendes nicht mehr kam. Durch die Entschärfung der Zeugenaussagen und die Verzögerung des Prozesses hatte mir Dr. Filbinger das Leben gerettet. National-Zeitung: Welches eigene Risiko hat Dr. Filbinger dabei in Kauf genommen? Forstmeier: Heute, nach über 60 Jahren, kann man es sich kaum vorstellen, wie schwer und gefährlich es damals war, für einen politisch Angeklagten einzutreten. Filbinger hat mit schwierigen und riskanten Maßnahmen die Gefahr eines Todesurteils gegen mich abgewendet. Wenn ich ein Wort von dem gesagt hätte, was Filbinger mir gegenüber geäußert hat, dann wäre er mit mir zusammen erschossen worden. Die Aktionen Filbingers waren für ihn lebensgefährlich. National-Zeitung: Gab es noch weitere Fälle, in denen Dr. Filbinger Leben gerettet hat? Forstmeier: Mir ist zumindest noch ein zweiter Fall bekannt. Dabei geht es um den zum Tode verurteilten katholischen Militärpfarrer Karl-Heinz Möbius, mit dem ich in Tromsö zusammen in einer Zelle saß und der mit einer baldigen Vollstreckung rechnen musste. Dr. Filbinger hat die Wiederaufnahme des Verfahrens durchgesetzt und eine Reihe von Entlastungsmaßnahmen eingeleitet, die nach monatelangem Kampf zur Aufhebung des Urteils führten. Todesstrafe international übliche Praxis National-Zeitung: Politisch korrekte Tugendwächter werfen Dr. Filbinger vor allem vor, dass er an Todesurteilen mitgewirkt habe. Wie war denn – etwa bei Fahnenflucht – die Praxis in anderen Ländern? Forstmeier: Im Zweiten Weltkrieg galt die Androhung der Todesstrafe in allen Armeen der Welt als gerechte Maßnahme bei Fahnenflucht. Natürlich musste auch in der letzten Kriegsphase die Disziplin bewahrt bleiben, um die deutschen Soldaten nicht in einem Chaos versinken zu lassen. Im Frühjahr 1945 rettete die deutsche Marine 2,5 Millionen Flüchtlinge aus Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen, denen die Rote Armee den Fluchtweg über Land abgeschnitten hatte, über die Ostsee. Dieses großartige Rettungswerk der Marine war nur möglich, weil die Disziplin unter den Schiffsbesatzungen und darüber hinaus Bestand hatte. Hätten Desertionen überhand genommen, so hätten weitere Hunderttausende ihr Leben verloren. National-Zeitung: Angekreidet wurde Dr. Filbinger auch immer wieder sein Satz: „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein“. Wie hat er das gemeint? Forstmeier: Dieser Satz bezog sich mit Sicherheit nicht auf die NS-Diktatur. Das Militärstrafrecht der Wehrmacht war kein Geschöpf des NS-Staates, sondern das im Kern unveränderte deutsche Militärstrafrecht von 1872. Es entsprach den international üblichen Standards. Dr. Filbinger ist im Übrigen gegen seinen Willen zur Militärjustiz verpflichtet worden, konnte sich als Jurist jedoch dieser Verwendung im Krieg nicht entziehen. Auch zwei Meldungen zur U-Bootwaffe, die damals als „Himmelfahrtskommando“ galt, halfen ihm nicht. National-Zeitung: Wie hat sich denn Ihr späteres persönliches Verhältnis zu Dr. Filbinger entwickelt? Forstmeier: Nach dem Krieg habe ich mit Dr. Filbinger Kontakt aufgenommen und wir haben eine enge persönliche Freundschaft geschlossen, die bis zu seinem Tode angehalten hat. Uns verbanden viele gemeinsame Überzeugungen. Unter anderem waren wir auch über das von ihm gegründete Studienzentrum Weikersheim verbunden. National-Zeitung: Wie haben Sie 1978 die öffentliche Debatte wegen Dr. Filbingers Tätigkeit in der Marinejustiz, die damals zu seinem Rücktritt als Ministerpräsident von Baden-Württemberg führte, erlebt? Forstmeier: Das hat mich persönlich sehr belastet. Ich habe damals diverse entlastende Leserbriefe und Berichte an Zeitungen geschrieben, die jedoch größtenteils bewusst unterschlagen wurden. Es war ganz offensichtlich eine von linken Medien und politischen Gegnern gesteuerte Verleumdungskampagne gegen Dr. Filbinger. National-Zeitung: Wie bewerten Sie Dr. Filbinger als Politiker? Forstmeier: Als Politiker war er mir in vielen Punkten zu schwach. Ich habe ihm immer geraten, energischer aufzutreten. Er war aber auf jeden Fall ein deutscher Patriot. Natürlich musste er als CDU-Politiker auch Rücksicht auf die linken Medien und die eigene Partei nehmen. Er hat in vielen Fragen nicht ganz den Mut aufgebracht, den ich mir gewünscht hätte. Trotzdem war er ein erfolgreicher Ministerpräsident, der versucht hat, im Rahmen des Möglichen für sein Land das Beste herauszuholen. National-Zeitung: Wie werden Sie Dr. Filbinger als Mensch in Erinnerung behalten? Forstmeier: Dass er mir das Leben gerettet hat, ist eine große menschliche Leistung von ihm gewesen. Ich kenne niemand anderen, der sich unter Gefahr für das eigene Leben so für andere eingesetzt hat. |