Fall Litwinenko
Verschwörungtheorien: Wie Rußland Litwinenkos Tod sieht
Von Michael Ludwig, Moskau
Steht die Tat in Zusammenhang mit Machtkämpfen im Kreml? 27. November 2006 Nach dem Tod des vergifteten russischen Ex-Agenten Alexander Litwinenko müssen sich drei Menschen in einer britischen Spezialklinik radiologischen Untersuchungen unterziehen. Zudem stießen die Behörden in London an weiteren Orten auf Anzeichen radioaktiver Strahlung, wie Innenminister John Reid sagte. Damit könnten wesentlich mehr Menschen radioaktiver Strahlung ausgesetzt gewesen sein als bisher befürchtet. Reid betonte allerdings, es gebe keinen Anlaß zur Unruhe.
Die Behörden forderten daraufhin alle Bürger auf, eine eigens eingerichtete Notrufnummer zu wählen, falls sie ebenfalls an diesen Orten waren. Mehr als 450 meldeten sich nach Behördenangaben aus Angst um ihre Gesundheit. 18 davon werden genauer untersucht, drei von ihnen müssen in die Spezialklinik. Es handle sich um eine Vorsichtsmaßnahme, um eine Verstrahlung oder radioaktive Vergiftung der Betroffenen mit Sicherheit ausschließen zu können, sagte eine Sprecherin der Gesundheitsschutzbehörde HPA. Unklar war, welche weiteren Orte radioaktive Rückstände aufwiesen. Reid machte dazu keine Angaben. In Medienberichten war von einem Bürokomplex in der Innenstadt die Rede sowie von einer Adresse im exklusiven Bezirk Mayfair. (Siehe auch: Fall Litwinenko: Radioaktives Gift erschwert Ermittlungen in London)
Rußland rätselt
Auch in Rußland spekulieren Politiker, Geheimdienstveteranen und Medien über die Hintergründe des rätselhaften Todes des früheren russischen Agenten Alexander Litwinenko. Sein Name ist in Rußland bekannt, seit er 1998 mit der Begründung aus dem Inlandsgeheimdienst FSB ausgeschieden ist, dieser wolle den Oligarchen Boris Beresowskij - damals einer der einflußreichsten Männer des Landes - ermorden lassen.
Doch große Beachtung haben die Aktivitäten Litwinenkos, der seit 2000 in London lebte, in den vergangenen Jahren nicht mehr gefunden. Als Litwinenko noch lebte, sein Körper aber schon vergiftet war, wurden im russischen Fernsehen Aufnahmen ausgestrahlt, die ihn in der Umgebung des nun im Londoner Exil lebenden Beresowskij, eines Intimfeindes Putins, und des Abgesandten der tschetschenischen Separatisten, Achmad Sakajew zeigten. Beresowskij spielt auch in der in den russischen Medien, vor allem den kremlnahen, am häufigsten zitierten Version des Geschehens die Hauptrolle: Er sei der Strippenzieher des Mordes und habe einen Konflikt mit Litwinenko genutzt, um den früheren Geheimdienstler zu liquidieren und zugleich Putin zu treffen.
Präsident Putin hat nach dem EU-Rußland-Gipfeltreffen in Helsinki am Freitag jede Schuld von sich gewiesen. Nicht Gott habe Litwinenko heimgeholt, sondern gewisse Leute hätten die Tat begangen, die ein politisches Ziel damit verfolgten, und leider sei Litwenko kein biblischer Lazarus. Putins Bevollmächtigter für die Beziehungen zur EU, Sergej Jastrschembskij, sagte in der finnischen Hauptstadt, er sei zwar kein Anhänger von Verschwörungstheorien, aber es sei schon sehr auffällig, daß Gegner der gegenwärtigen russischen Staatsmacht ausgerechnet dann Verbrechen zum Opfer fielen, wenn ein wichtiges internationales Treffen bevorstehe.
Litwinenkos Tod schade Putin
Unmittelbar vor Putins Deutschlandbesuch im Oktober war die regimekritische Journalistin Anna Politkowskaja in Moskau erschossen worden. Damals wie jetzt ist in Rußland der Verdacht geäußert worden, das Ziel der Morde sei es, die russische Führung im Westen in Mißkredit zu bringen. Dem schloß sich auch die regierungstreue Zeitung ?Iswestija? an: Bis die Umstände des Todes von Litwinenko geklärt seien, werde das Bild von den russischen Giftmördern durch die westlichen Medien geistern, denn dieses Vorurteil komme gut an und lasse sich bestens verkaufen. Allerdings sind auch im Westen die Stimmen stark, die vor schnellen Beschuldigungen warnen - so rief am Montag Premierminister Blair dazu auf, das Ergebnis der polizeilichen Untersuchungen abzuwarten.
Auf Geheimdienstveteranen will fast keine russische Zeitung verzichten, um die Hintergründe zu beleuchten. Fast einstimmig sagen sie, daß Mord durch russische Geheimdienstler im Auftrag der politischen Führung ausscheide. Der Kreml habe keinen Grund gehabt, Litwinenko töten zu lassen. Dessen Tod schade mehr, als jede noch so heftige Kritik Litwinenkos an Putin es jemals vermocht habe. Und überdies wisse der russische Geheimdienst, daß man die Spur von Polonium 210 bis in das Ausgangsland und in das Ursprungslaboratorium zurückverfolgen könne. Dieser Gefahr, identifiziert zu werden, würde sich der russische Geheimdienst aber niemals ausgesetzt haben. Der pensionierte KGB-Mann Oleg Kalugin wies darauf hin, daß andere Geheimdienstler, die die Seiten gewechselt hatten und über weit mehr geheimes Wissen verfügten, als Litwinenko, noch immer am Leben seien.
Im Kreis von Fachleuten, die der Radiosender ?Echo Moskwy? am Sonntagabend befragte, wurde die Vermutung geäußert, daß die Tat womöglich im Zusammenhang mit Machtkämpfen im Kreml stehe. Auch wurde nicht vollkommen ausgeschlossen, daß gewisse Leute im Geheimdienst Litwinenko auf eigene Faust hätten bestrafen wollen. Das Schlimmste an allem sei, daß man den Einsatz von Polonium 210 auch vor dem Hintergrund sehen müsse, ob dies bedeute, daß demnächst Terroristen Zugang zu derartig gefährlichen Stoffen erhalten könnten.
Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben, man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken.
|