Der Hochmut des Allmächtigen
Von Till Schwertfeger, Besancon
Mit mehr Etappensiegen im Gepäck als jemals zuvor wird Lance Armstrong heute auf der Champs-Elysées in Paris Hof halten. Auf dem Weg zum sechsten Tour-de-France-Triumph in Serie führt der US-Amerikaner seine Gegner und Kritiker allesamt vor - und auch im kommenden Jahr dürfte er sein Spiel weiter treiben.
Mit in die Höhe gereckten Armen trat Lance Armstrong wie ein Souverän auf das Siegerpodest in Besancon. Auch im zweiten Einzelzeitfahren dieser Grande Boucle war der US-Amerikaner unantastbar gewesen, es war sein fünfter Etappensieg innerhalb von acht Tagen. Als erster Radfahrer in der 101-jährigen Geschichte der Tour de France wird er heute in Paris zum sechsten Mal in Gelb gekleidet. "C'est la perfection!", teilte der Live-Reporter des französischen Fernsehens seinem staunenden Publikum fasziniert mit, als Armstrong wie eine Menschmaschine erneut mit rund einer Minute Vorsprung auf Jan Ullrich zum Sieg kurbelte. "Dieses Jahr war Lance nicht zu schlagen", zollte der T-Mobile-Kapitän gefasst seinen Respekt.
Am Vortag allerdings hatte Armstrong seinen chronisch gleichmütigen Widersacher kurzzeitig aus der Fassung gebracht. "Ich war stinksauer, als Lance plötzlich weg war", berichtete Ullrich, "ich dachte schon, jetzt attackiert er sogar an einem Berg der vierten Kategorie. Diese Übermacht wäre wirklich zu viel gewesen." Tatsächlich demonstrierte der US-Postal-Leader seine Allmacht in diesem Moment auf dem Rücken eines ganz anderen Gegners.
Es geschah, als sich der in der Gesamtwertung um Stunden abgehängte Italiener Felippo Simeoni in der Anfangsphase der drittletzten Tour-Etappe Richtung Lons-le-Saunier angeschickt hatte, einer sechsköpfige Ausreißergruppe zu folgen. Der Träger des Maillot Jaune hängte sich an sein Hinterrad, verfolgte ihn und redete solange auf ihn ein, bis dieser seine Anstrengungen einstellte, um den Etappensieg mitzufahren. Der Niederländer Marc Lotz, im Ziel Fünfter, kommentierte die Rückholaktion kopfschüttelnd: "Das wird ein Bild dieser Tour bleiben."
Es ist eines der weniger schönen Bilder, die zur fantastischen Karriere Armstrongs gehören: vom Krebspatienten zum Rekordsieger der Tour de France. Er stellte Simeoni wie ein texanischer Sheriff nach, weil dieser "den Radsport zerstören will", so Armstrong. Vor allem fühlt sich der US-Amerikaner persönlich angegriffen. Simeoni hat nämlich vor einem italienischen Gericht ausgesagt hat, dass er unter Anleitung des Arztes Michele Ferrari das Blutdopingmittel Epo gespritzt habe. Ferrari ist ein enger Berater Armstrongs.
Der Prozess in Bologna ist noch im Gange. Auf Frankreichs Straßen aber richtete der beste Radrennfahrer der Welt in Hochmut über den Kronzeugen. "Ich habe die Interessen des Pelotons vertreten", erklärte Armstrong unwirsch, "niemand will einen wie Simeoni vorn im Feld sehen." Diese bittere Erfahrung musste der Domina-Vacanze-Profi machen, als er sich zurückfallen ließ. "90 Prozent der Fahrer sind auf Armstrongs Seite, nur 10 auf meiner", sagte Simeoni der "L'Equipe". Er sei sogar als Nestbeschmutzer beschimpft worden. "Das geschieht dir recht!", soll T-Mobile-Fahrer Daniele Nardello gerufen haben, "du bist eine Schande für den Radsport. Typen wie du sollten nicht bei der Tour de France starten dürfen." So sieht der Umgang des Pelotons mit dem Thema Doping - ungeachtet des jüngsten Geständnisses von Armstrong-Freund David Millar - noch immer aus. Das Schlimmste: Sein Patron geht mit schlechtem Beispiel voran.
"Das Problem mit Lance ist, dass man nicht mit ihm diskutieren kann. Für ihn bist du immer entweder ein Lügner oder jemand, der den Radsport zerstören will", beklagte unlängst Armstrongs Landsmann Greg Lemond, 1986 erster amerikanischer Tour-Gewinner, "Lance ist bereit, alles dafür zu tun, um sein Geheimnis für sich zu bewahren. Aber ich weiß nicht, wie er es fortsetzen will, die ganze Welt von seiner Unschuld zu überzeugen."
Bewunderung und Zweifel werden Armstrong weiter verfolgen, gestern bestätigte er offiziell, dass er seine Karriere fortsetzen wird - wahrscheinlich fährt sogar erneut die Frankreich-Rundfahrt. "Ich habe noch keinen genauen Plan für 2005, aber die Tour de France ist das großartigste Rennen der Welt. Es ist das, was ich am meisten liebe", erklärte der 32-Jährige, "ich kann mir nicht vorstellen, es auszulassen." Während die blonde Dolmetscherin neben ihm seine Antworten in Französische übersetzte, studierte der Champion fasziniert die Ergebnislisten.
Schwarz auf gelb fand Armstrong dort seine Dominanz dokumentiert, er nahm es mit einem fröhlichen Grinsen zur Kenntnis. Für alle diejenigen, die nicht glauben wollen, dass allein "Talent und harte Arbeit" die Zutaten für seinen sagenhaften Erfolg sind, gab er genüsslich Antworten auf selbst gestellte Fragen, mit denen er Jan Ullrich verhöhnte: "Was mache ich am 25. Dezember und am 1. Januar? - Radfahren!", "Habe ich sechs Wochen vor dem Tour-Start zehn Kilogramm Übergewicht? - Mit Sicherheit nicht!" Dass es so schwierig sei, die Kritiker zu überzeugen, motiviere ihn zusätzlich, teilte Armstrong angriffslustig mit.
Innerhalb der kommenden zwei Monate, kündigte der US-Amerikaner an, werde er mit seinem Teamchef Johan Bruyneel und Vertretern des Discovery Channel, dem neuen Hauptsponsor seiner Mannschaft, die Termine für die kommende Saison abstimmen. Er muss einen Kompromiss finden zwischen Radfahren und Familie. Im vergangenen Jahr war Armstrongs Ehe in die Brüche gegangen, seine drei Kinder leben mit ihrer Mutter in den USA. Die großen Rennen jedoch finden in Europa statt. "Es stimmt, dass ich gerne mal den Giro d'Italia fahren würde", sagte Armstrong entspannt. Präziser wurde er nicht.
Seine Rivalen sollten in jedem Fall für alles gewappnet sein. Im zweiten Teil seiner Autobiographie ("Jede Sekunde zählt") hat Armstrong seine Auffassung vom Leben beschrieben: "Was immer ich mache, ich will das Spiel beherrschen, ich will es gewinnen, und ich will es bis an seine Grenzen ausreizen."
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