Kloake. Als ob Terroristen sich von ihren Taten abhalten ließen, nur weil ein paar wenige das System mibrauchen. Lieber gleich wieder mit dem Dampfhammer auf jeden einschlagen, der in seine Toleranzgrenzen nicht so eng gezogen hat. | | ANGRIFFSZIEL PASSAGIERJET
Angst vor der Terror-Rakete
Von Markus Becker
Die Eskalation im Nahost-Konflikt hat die globale Terror-Gefahr erneut erhöht. Dass Islamisten westliche Passagierjets mit tragbaren Raketen attackieren, halten Experten nur für eine Frage der Zeit - und funktionierende Abwehrsysteme für eine technische Illusion.
| REUTERSWunderwaffe für Gotteskrieger: afghanische Taliban-Kämpfer mit amerikanischen "Stinger"-Raketen (1999) | Die Horrorvision für Sicherheitsexperten beginnt mit einer Alltagsszene: Ein Passagierjet schleppt sich mit donnernden Triebwerken in den Himmel über einer Millionenstadt.
Dann aber rast von hinten ein Geschoss mit doppelter Schallgeschwindigkeit heran, bohrt sich in eines der heißen Triebwerke, zerreißt die kerosinschwere Tragfläche in einem Feuerball und lässt den brennenden Flieger auf die Stadt stürzen.
Der Abschuss von Passagierjets mit tragbaren Flugabwehrraketen ist für Fachleute in Behörden und Airlines mittlerweile vom Alptraum zur realistischen Bedrohung geworden - spätestens seit November 2002, als eine Boeing 757 der israelischen Arkia Airlines mit 271 Passagieren an Bord über der kenianischen Hafenstadt Mombasa beschossen wurde. Die beiden veralteten russischen Raketen vom Typ SA-7 "Strela" ("Pfeil") verfehlten ihr Ziel nur um wenige Meter. Der Anschlag wurde später dem Terror-Netzwerk al-Qaida zugeschrieben.
24 von 35 angegriffenen Zivilfliegern stürzten ab
Es war das erste Mal, dass ein Zivilflugzeug außerhalb eines Kriegsgebiets mit so genannten "Manpads" (Man-Portable Air Defense Systems) attackiert wurde. Die kleinen Raketen, die von der Schulter abgefeuert werden, sind eine kaum berechenbare Gefahr: Das amerikanische "Stinger"-System etwa, der bekannteste Vertreter seiner Gattung, wiegt inklusive Rakete ganze 16 Kilogramm, ist anderthalb Meter lang und damit hoch mobil. Das Geschoss, das zweifache Schallgeschwindigkeit erreichen kann, hat eine Reichweite von bis zu acht Kilometern, kann Flugzeuge noch in mehr als 3000 Metern Höhe treffen und sucht sich mit ihrem Hitzesuchkopf selbst sein Ziel. Zudem gilt das System als spielend leicht bedienbar.
| DDPTransportflugzeug beim Ausstoß von Täuschkörpern: Glühender Regen ist auf dem Schlachtfeld weniger problematisch als über Städten | Wie gefährlich die Kleinraketen sind, zeigt eine vom US-Heimatschutzministerium in einem Bericht an den Kongress verwendete Statistik. Demnach wurden in den vergangenen 25 Jahren 35 Zivilflugzeuge mit "Manpads" beschossen. 24 Flieger stürzten ab und rissen insgesamt über 500 Menschen in den Tod. Zudem, so das Ministerium, gebe es wahrscheinlich eine beachtliche Dunkelziffer an fehlgeschlagenen Raketenangriffen, die nicht bemerkt oder nicht gemeldet worden seien. Und selbst eine gescheiterte Attacke auf ein Linienflugzeug, sagten Vertreter des US-Verkehrsministeriums in einer Senatsanhörung im November 2003, wäre ein "vernichtender wirtschaftlicher und politischer Schlag", sollte sie bekannt werden.
"Die Bedrohung wird sehr ernst genommen", sagt Lothar Belz vom europäischen Luftfahrt- und Rüstungskonzern EADS, unter dessen Dach sowohl die Airbus-Passagierjets als auch Kampfflugzeuge wie der Eurofighter entwickelt wurden. Das Hauptproblem: Infrarot-gesteuerte "Manpads" sind nicht nur leicht zu transportieren, zu warten und zu bedienen, sondern auf den Waffenbasaren der Dritten Welt auch weithin verfügbar. "Schätzungen gehen von Zehntausenden aus", erklärte Belz gegenüber SPIEGEL ONLINE.
Andere Fachleute setzen die Zahl noch höher an. Das Fachblatt "Jane's Intelligence Review" etwa berichtet, dass sich weltweit bis zu 150.000 "Manpads" im Umlauf befinden, zu Preisen ab 2500 Dollar für eine veraltete russische "Strela" bis hin zu 250.000 Dollar für eine moderne "Stinger". Das renommierte Londoner International Institute for Strategic Studies glaubt, dass mehr als 20 Terror-Organisationen in aller Welt über "Manpads" verfügen - von der al-Qaida über die IRA bis hin zu tschetschenischen Rebellen. Auch die Bundeswehr betonte jüngst in ihrem "Y-Magazin" die Gefahr durch "Stinger", "Strela" und "Igla": "Zahlreiche solcher Waffen befinden sich im Besitz islamischer Terroristen."
CIA belieferte die Taliban großzügig
Dass Islamisten überhaupt an Flugabwehrraketen gekommen sind, ist nicht zuletzt das Werk der amerikanischen CIA. Der US-Geheimdienst hatte die afghanischen Mudschahidin im Kampf gegen die sowjetische Besatzungsarmee mit "Stingers" ausgerüstet - und die Gotteskrieger holten in den achtziger Jahren reihenweise die Flugzeuge der Roten Armee vom Himmel. Insgesamt wurden mindestens 270 Hubschrauber, Kampfjets und Transportmaschinen abgeschossen - die "Stinger" gewann den Ruf einer Wunderwaffe.
Expertenschätzungen zufolge lieferte die CIA 500 bis 1200 Abschussgeräte, jedes versehen mit mehreren Geschossen, nach Afghanistan. 200 bis 300 Stück, hieß es im US-Verteidigungsministerium, gelangten später in die Hände der Taliban. Nach Schätzungen westlicher Geheimdienste verfügt allein Osama Bin Ladens al-Qaida heute noch über Dutzende älterer "Stinger"-Versionen, die bei sorgfältiger Wartung durchaus noch einsatzfähig sein könnten. | DPABeim Anschlag von Mombasa eingesetzte Raketenwerfer: Israelischer Jet um wenige Meter verfehlt |
Fluglinien und Behörden planen technologische Maßnahmen gegen die Bedrohung. Das US-Heimatschutzministerium hat Anfang dieses Jahres die Rüstungs- und Luftfahrtkonzerne BAE Systems, Northrop Grumman und United Airlines beauftragt, Raketenabwehrsysteme für Ziviljets zu entwickeln. 100 Millionen Dollar will die Regierung Bush innerhalb von zwei Jahren für das Projekt ausgeben.
In Israel ist man schon einen Schritt weiter: Im August 2003 kündigte Premierminister Ariel Sharon an, für insgesamt neun Millionen US-Dollar sieben bis zehn Passagierflugzeuge so schnell wie möglich mit dem Abwehrsystem "Elta" ausrüsten zu lassen.
Das deutsche Bundesverkehrsministerium macht derzeit keine Anstalten, ähnliches vorzubereiten. Die "gegenwärtige Bedrohungslage", hieß es noch vor kurzem, mache den Einbau von Abwehrsystemen nicht nötig. Europäische Behörden und Fluglinien stehen den Defensivsystemen generell skeptisch gegenüber. Denn Experten sind alles andere als sicher, ob sich die militärische Abwehrtechnik überhaupt für die zivile Luftfahrt eignet - und ob ein solches Mammutprojekt finanzierbar wäre.
Glühender Regen über Städten und Industrien
Militärische Anti-Raketen-Systeme beruhen in der Regel auf Täuschkörpern: Ein Flugzeug, das von einer Rakete ins Visier genommen wird, stößt Hitzefackeln ("Flares") aus, um den Hitzesuchkopf des anfliegenden Geschosses in die Irre zu führen. Daneben gibt es so genannte Infrarot-Jammer, die mit Lichtblitzen die feindlichen Raketen stören oder gleich gänzlich vernichten.
Was militärisch sinnvoll ist, könnte im zivilen Bereich jedoch mehr schaden als nützen. Ein Regen glühend heißer Täuschkörper kann über der Wüste oder einem Schlachtfeld niedergehen, ohne Schaden zu verursachen, aber "ein regelmäßiger Einsatz über dicht besiedeltem Gebiet wäre der Öffentlichkeit schwer zu vermitteln", heißt es in einem Dokument des Pentagons.
| DPAFlugzeugabsturz in einer Großstadt: Der Crash einer israelischen Frachtmaschine auf Amsterdam im Oktober 1992 riss eine Schneise in einen Wohnblock und tötete 43 Menschen |
Ein weiteres Problem der Militärtechnik ist, dass sie im Zweifel lieber auf Nummer sicher geht und auch dann Gegenmaßnahmen einleitet, wenn nicht völlig klar ist, ob eine echte Bedrohung vorliegt. Zu empfindliche Abwehrsysteme an Bord Tausender Linienmaschinen aber könnten die zivile Luftfahrt ins Chaos stürzen: Flugzeuge, die am Himmel wilde Ausweichmanöver vollführen, panische Passagiere und Hunderte von abgesagten Flügen bei jedem Fehlalarm - "eine großartige Werbung für die Bahn", spottete ein CIA-Mann gegenüber der "New York Times".
Zwar seien bereits in einzelnen Zivilflugzeugen Raketenabwehrsysteme eingebaut, betont EADS-Experte Belz - nicht nur in der Air Force One des US-Präsidenten, sondern auch in deutschen VIP- und Regierungsmaschinen. In hundert- oder tausendfacher Ausführung aber wären solche Systeme "eventuell problematisch" für den internationalen Flugverkehr.
Rüstungskonzernen winken Milliardenaufträge
Dass US-Politiker dennoch auf Raketenabwehrsysteme für Ziviljets bestehen, hat nach Meinung europäischer Fluggesellschaften nicht zuletzt wirtschaftliche Hintergründe. Zu den glühendsten Befürwortern einer Gesetzesinitiative zählt etwa die kalifornische Senatorin Barbara Boxer, in deren Heimat zufällig auch der Rüstungskonzern Northrop Grumman beheimatet ist, der nun von der Regierung mit der Entwicklung eines zivilen Abwehrsystems beauftragt wurde.
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Dem Gewinner einer entsprechenden Ausschreibung winkt ein Milliarden-Auftrag: Allein die USA besitzen eine rund 6800 Maschinen starke Passagierjet-Flotte, und das US-Heimatschutzministerium schätzt die Kosten für den Einbau eines Abwehrsystems auf eine Million bis drei Millionen Dollar pro Flugzeug - was Gesamtkosten von bis zu 20 Milliarden Dollar bedeuten würde. Hinzu kämen Aufträge für Wartung und technologische Neuerungen, denn die Entwicklung bleibt auch bei den Lenkwaffen nicht stehen. Die Russen etwa haben in die SA-18 "Igla" bereits ein neues zweistufiges Suchsystem eingebaut, das einen nicht gekühlten Sensor und spezielle Filter besitzt - um gleich einer ganzen Reihe von Täuschkörpern und Infrarot-Jammern zu widerstehen.
Kritiker setzen deshalb die Vision eines lückenlosen Schutzes ziviler Flugzeuge auf eine Stufe mit Ronald Reagans "Star Wars"-Phantasie und George W. Bushs Nationaler Raketenabwehr: Ein technologisches Beruhigungsmittel, das nie wirklich funktionieren wird, dem Volk aber Sicherheit suggeriert - und nebenbei die Auftragsbücher der einflussreichen Rüstungsindustrie füllt.
Am vielversprechendsten ist, so glauben unabhängige Experten sowie das Bundesinnenministerium, einen Schuss mit einer Boden-Luft-Rakete erst gar nicht zuzulassen - indem die Flughäfen weiträumig gesichert werden. Das aber dürfte insbesondere bei innenstadtnahen Airports wie etwa in Hamburg, Düsseldorf oder London-Heathrow schlicht unmöglich sein. Ein Sprecher einer deutschen Fluggesellschaft flüchtet sich in Fatalismus: "Hundertprozentige Sicherheit", meint er, "gibt es schließlich nirgendwo." Spiegel
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