Anmerkungen eines Wechselgewählten Westerwelle über die Wiedergeburt der FDP als gesamtdeutsche Partei / Von Volker Zastrow
FRANKFURT, 23. April. Der FDP-Vorsitzende Westerwelle betrachtet den Aufschwung seiner Partei in Sachsen-Anhalt auch als persönlichen Sieg. Tatsächlich kann er für sich in Anspruch nehmen, mit der Bestellung Cornelia Piepers zur Generalsekretärin eine weitblickende Entscheidung getroffen zu haben. Vor einem Jahr war diese Personalie noch umstritten. Jetzt aber hat Westerwelle eine strahlende Wahlsiegerin im Team, eine Ostdeutsche. Damals hatte Westerwelle es hingenommen, daß die neue Generalsekretärin sogleich eigenmächtig forderte, den Solidarzuschlag beizubehalten. Das war ein offener Widerspruch gegen die Linie der Partei, ein Affront. Westerwelle hat ihn ertragen, ja mitgeholfen, ihn bis zur fiskalischen Bedeutungslosigkeit zu verharmlosen, auch aus Rücksicht auf Frau Piepers Gespür für das, was man im Osten sagen kann und was nicht.
Schon als Generalsekretär konnte sich Westerwelle über die Wirkung des Slogans von der FDP als "Partei der Besserverdienenden" maßlos erregen. Das Motto hatte sein Vorgänger Hoyer 1994 erfunden. Es war - nicht nur nach Westerwelles Meinung - ursächlich für die dann folgenden Einbrüche der Partei in den neuen Bundesländern. Seither verfolgt Westerwelle das Ziel, den Schaden wiedergutzumachen. Die FDP soll wieder eine gesamtdeutsche Partei werden. Sachsen-Anhalt war deshalb, so sagt ihr Vorsitzender, auch "meine Probe aufs Exempel" - mit Betonung auf "meine". Denn Westerwelle sieht in den neuen Bundesländern für die FDP große Chancen, und das nicht etwa aus traditionalistischen Gründen. Nicht die Verwurzelung des Liberalismus in manchen Landstrichen Mitteldeutschlands, auch sachsen-anhaltischen, ist dafür entscheidend, denn diese Wurzeln sind verdorrt. Eine nennenswerte Bindung von Stammwählerschaft an die FDP gibt es in den neuen Bundesländern nicht. Westerwelle setzt auf Wechselwähler.
Das Potential freidemokratischer Wähler im Osten betrage ein Fünftel bis ein Viertel, schätzt Westerwelle. Schöpfte die Partei es aus, würde sie in derselben Liga spielen wie CDU, SPD und PDS. Kein Wunder, daß Frau Pieper sich schon als Ministerpräsidentin sieht und Westerwelle sich neuerdings als möglicher Kanzlerkandidat. Er weiß, daß solche Sprüche nicht überall gut ankommen. Seinen Auftritt im Fernsehen mit Achtzehn-Prozent-Sohlen kann man witzig finden, aber auch lächerlich. "Ein Gag", sagt Westerwelle. Darüber werde geredet. Also auch über die FDP. Solche Spielereien seien ein Mittel zum Zweck. Schon als er sich seinerzeit im "Big Brother"-Container präsentierte, hatte Westerwelle argumentiert, daß man Wähler nur dort abholen könne, wo man sie antreffe: damals also vor dem RTL-Bildschirm. (Fortsetzung Seite 2.)
Das ist übrigens auch ein Beispiel dafür, wie man sich zu Tode siegen kann. Denn diese Kommunikationsstrategie hat nicht Westerwelle, sondern Möllemann erfunden. Möllemann hat überdies Westerwelle den Weg zum Vorsitzenden freigehackt, er selbst wollte "Kanzlerkandidat" werden und als solcher dann das Sagen haben. Das hat Westerwelle, frisch gewählt, sogleich abgebogen: die FDP brauche keinen Kanzlerkandidaten. Wenn er sich jetzt doch als solcher ins Spiel bringt, erledigt er Möllemann damit gleich noch einmal - mit dessen eigener Idee. Der Schachzug hat sogleich die erwünschte Schlagzeile auf dem Boulevard gebracht, befriedigt aber bei genauem Hinsehen auch feingründige Bedürfnisse politischer Ästhetik. Nie allerdings läßt Westerwelle sich zu abwertenden Äußerungen über Möllemann verleiten, sowenig wie über Gerhardt.
Zweifel an seiner Boulevardpolitik wischt Westerwelle leichter Hand beiseite. Sie entsprächen der "Innensicht der politischen Kaste", nicht der Wahrnehmung der Bürger. Außerdem solle sein Stil ruhig weiter kritisiert werden - denn auch dann werde ja über ihn und seine Partei gesprochen. Und jede Minute, die einer mit Reden und Nachdenken über die FDP verbringt, verbringt er nicht mit anderen Parteien. Von denen aber unterscheide sich die FDP und ihr Führungspersonal durch "Fröhlichkeit und lebensbejahendes Zupacken". Außerdem wüßten die Menschen, "daß Frechheit oft siegt".
60 neue Mitglieder hatte der Vorsitzende mit seinen 18-Prozent-Sohlen schon am Morgen danach gewonnen; die Herabsetzung des Wahlalters, auch ein Projekt 18, hat die Partei zusammen mit der SPD im Sommer 1970 ins Werk gesetzt. Die Jugend lag dem 1961 geborenen Westerwelle immer am Herzen. Nun ist er selbst über vierzig und hat - deshalb? - das Alter der relevanten Wählergruppe auf 18 bis 45 heraufgesetzt. Das seien im wesentlichen die Wähler, die in Sachsen-Anhalt für die FDP gestimmt hätten. Dieses Potential gebe es im ganzen Osten für seine Partei: Leute mit einer "Einstiegsmentalität". Diese Menschen wollten ihre Chance jetzt, nicht irgendwann. Die CDU habe ihnen mit Kohl die Politik des "Aussitzens" geboten, die SPD mit Schröder die Politik "der ruhigen Hand". Was bietet die FDP? Den "dritten Weg", sagt Westerwelle. Koalitionsaussagen für den September stehen nicht zur Debatte. Westerwelle konturiert die Partei als selbständige politische Kraft, nicht als Funktions- oder Klientelpartei, nicht als Mehrheitsbeschaffer.
Was das Dritte zwischen Sitzen und Ruhen ist, kann man einstweilen dahingestellt sein lassen, nämlich ins FDP-Wahlprogramm. Das liege auf dem Tisch, 85 Seiten stark. Ein "Wahlbuch" sei es inzwischen schon, das mit Abstand konkreteste und präziseste überhaupt. "Wir sagen die Sachen, die andere sich nicht trauen", sagt Westerwelle, will aber zur Zeit nicht sagen, welche. Das könnte als Einmischung des Parteivorsitzenden in die Koalitionsverhandlungen in Magdeburg gewertet werden, wo Frau Pieper mit dem Christdemokraten Böhmer um den Ministerpräsidentenposten ficht. Vergeblich vermutlich, denn unter Böhmers Sohlen steht "36".
Könnte es sein, daß vom FDP-Erfolg im Osten programmatische Rückwirkungen auf die FDP insgesamt ausgehen? Daß also Frau Pieper, wie alle anderen Politiker in den neuen Ländern, die Befindlichkeit dort mit allerlei Transfer-Versprechen bedienen muß, weil nur das belohnt wird - und so die "konkreteste und präziseste" Partei verändert? Das bestreitet Westerwelle, "vehement". Er sieht im Gegenteil das Licht im Osten. Die Bindungslosigkeit der Wechselwähler dort berge gewiß große Risiken, aber ebensogroße Chancen. Die Ostdeutschen seien "sehr veränderungswillig". Übrigens auch, weil der Problemdruck dort stärker empfunden werde. Das Gefühl, daß sich etwas ändern müsse, sei im Osten weiter verbreitet als im Westen.
Westerwelle hat selbst in Sachsen-Anhalt intensiv Wahlkampf gemacht. Sein wichtigster Eindruck: Die Leute seien geradezu darauf aus, daß man ihnen die Wahrheit sage. Viel mehr als die Westwähler seien sie allerdings auch bereit, Politiker zu bestrafen, von denen sie sich belogen fühlten - oder die einfach ihre Hoffnungen nicht erfüllten.
Dieser Trend präge zunehmend auch das Wählerverhalten im Westen: "Die Westdeutschen gucken sich das ab." Westerwelle verweist auf die letzten Wahlergebnisse in Berlin, Hamburg und Nordrhein-Westfalen mit ihren Verwerfungen. Immer hat davon auch die FDP profitiert, wenn auch in unterschiedlichem Maß. Dann lenkt Westerwelle den Blick auf Europa, auf den "kometenhaften Aufstieg" liberaler Parteien (Haider ist ausdrücklich nicht gemeint). Überall profitierten die Liberalen vom neuen Selbstbewußtsein der Wähler, von der "neuen Freiheit". Westerwelle auf der Erfolgswelle: als Wellenmacher und Wellenreiter.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.04.2002, Nr. 95 / Seite 1
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