ZEIT ONLINE 4.11.2008 - 16:56 Uhr [http://www.zeit.de/online/2008/45/hessen-interview] Hessen-SPD"Ypsilanti wurde öffentlich hingerichtet"Der hessische SPD-Abgeordnete Turgut Yüksel spricht über die vier Abweichler, die Rot-Rot-Grün verhindert haben, Führungsfehler und den Zorn in seiner ParteiTurgut Yüksel, integrationspolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, wollte eigentlich heute Mittag – gemeinsam mit seinen Fraktionskollegen, den Grünen und den Linken – Andrea Ypsilanti zur Ministerpräsidentin wählen. Stattdessen sitzt er nun in seinem Wiesbadener Abgeordnetenbüro und kann sich über den unverhofft freien Tag nicht freuen. Als er die Tür öffnet, verschickt einer seiner Mitarbeiter gerade eine Pressemitteilung. Auf ihr steht, dass das Verhalten der vier SPD-Abweichler "menschlich unanständig und hinterlistig“ gewesen sei. ZEIT ONLINE: Herr Yüksel, wann haben Sie erfahren, dass die Wahl Ypsilantis zur Ministerpräsidentin ins Wasser fällt? Yüksel: Gestern um 10:30 Uhr rief mich mein Mitarbeiter an und hat es mir erzählt. ZEIT ONLINE: Wie war ihre Reaktion? Yüksel: Ich war fassungslos und empört. ZEIT ONLINE: Hatten Sie denn keine böse Vorahnung? Ihr Parteivize Jürgen Walter hatte ja in seiner Rede auf dem Landesparteitag am Wochenende ja schon gesagt, dass er den Koalitionsvertrag ablehnt. Yüksel: Tief im Inneren gab es eine Angst, dass es noch scheitern könnte. Ich konnte aus Walter nicht schlau werden. Aber an sich war ich optimistisch eingestellt, weil er in der Fraktion immer gesagt hat, dass er den Weg mitgehe, wenn der Parteitag sich dafür entscheidet. ZEIT ONLINE: Sind Sie von den vier Abweichlern persönlich enttäuscht? Yüksel: Natürlich bin ich wütend. Bis auf Frau Metzger haben alle drei bei der Probeabstimmung im September mit "Ja“ gestimmt. Alle haben gesagt, sie richten sich nach den Parteitagsbeschlüssen. Sowohl auf dem Parteitag in Rotenburg als auch in Fulda gab es eine Mehrheit von mehr als 95 Prozent für die Koalition mit den Grünen und die Tolerierung durch die Linken. Hinzu kommt, dass alle am Koalitionsvertrag mitgearbeitet haben. Walter war in der Verhandlungsgruppe. Er rächt sich jetzt dafür, dass er nicht Wirtschaftsminister geworden ist. Everts hat den Kriterienkatalog mitgeschrieben, an den sich die Linkspartei halten musste. ZEIT ONLINE: Gestern sagte Frau Everts, sie habe insgeheim gehofft, die Linkspartei würde diesen Katalog ablehnen. Yüksel: Sie beruft sich jedes Mal darauf, promovierte Politologin zu sein und sich mit dem Extremismus gut auszukennen. Aber welches Demokratieverständnis steckt denn dahinter, wenn man solche Scheinangebote formuliert? Das hat mit "Moral und Gewissen“ nichts zu tun. Auf diese Tugenden hat sie sich ja gestern berufen. In Wahrheit ist das Verarschung und Missachtung der Parteitagsbeschlüsse. ZEIT ONLINE: Angeblich hat Frau Ypsilanti die Abweichler kein einziges Mal persönlich gesprochen oder vorher gefragt, ob sie sie mitwählen. Yüksel: Es ist infam zu sagen, es habe kein Gespräch gegeben. Auf Nachfrage musste Frau Everts selbst einräumen, dass sie doch 25 Minuten mit Frau Ypsilanti gesprochen hat. Tatsächlich haben die vier gestern Morgen das Gespräch mit Ypsilanti verweigert. Stattdessen haben sie die Presse frühzeitig informiert und ihre Parteichefin öffentlich hingerichtet. Ich glaube ihre Gewissensbisse nicht, da steckt etwas anderes dahinter. ZEIT ONLINE: Was denn?
Yüksel: Roland Koch ist mit allen Wassern gewaschen. Ich würde ihm zutrauen, dass er seine Finger im Spiel hatte. Auch anderen in der Fraktion ist das Angebot gemacht worden, gegen Ypsilanti zu stimmen. Ich weiß das von einem Fraktionskollegen persönlich, der das Angebot aber empört abgelehnt hat. ZEIT ONLINE: Von Herrn Koch?
Yüksel: Fragen Sie ihn selbst. ZEIT ONLINE: Frau Tesch und Frau Everts sagten gestern, dass sie sich nicht getraut hätten, ihre Meinung früher öffentlich zu machen, weil sie Angst vor Buhrufen hatten. Das spricht auch nicht unbedingt für ein gutes Klima innerhalb ihrer Partei. Yüksel: Ich bin seit 27 Jahren in der SPD und habe auch schon Niederlagen erlebt. Auch am Koalitionsvertrag fand ich nicht alles gut, zum Beispiel, dass die Grünen das Kultusministerium bekommen hätten. Aber es gibt gewisse Spielregeln in demokratischen Parteien. Einer der höchsten Werte der SPD ist Solidarität. Die Abweichler hatten ja durchaus Freunde in der Fraktion, sie hätten sich zusammenschließen und für ihre Überzeugung kämpfen können. Aber nach einem solchen Verhalten, kann man sich auf solche Leute nicht mehr verlassen. ZEIT ONLINE: Hat nicht auch Ypsilanti Fehler gemacht? Die Grüne werfen ihr Führungsversagen vor. Yüksel: Ich kann den Zorn der Grünen verstehen. Sie haben wie wir seit Wochen Tag und Nacht auf den heutigen Tag hingearbeitet. Ich schäme mich auch vor den Leuten, die große Hoffnungen mit unserem Politikwechsel verknüpft hatten und nun enttäuscht wurden. Wir hätten viel für mehr Bildung und gegen Armut erreichen können. Aber wenn vier Leute ihre Chefin ins offene Messer laufen lassen, dann stellt sich für mich die Schuldfrage nicht. ZEIT ONLINE: Ypsilanti bleibt also Vorsitzende der Hessen-SPD? Sie sollte nicht zurücktreten?
Yüksel: Ich stehe 100 Prozent hinter ihr. Sie musste im letzten Jahr viel über sich ergehen lassen. Was sie durchgemacht hat, verdient Respekt. Das Gespräch führte Michael Schlieben
|