Tsipras hat so ziemlich alles falsch gemacht, was ging - und dabei auch allen Beteiligten den maximal möglichen Schaden zugefügt, die auch nur in seine Nähe kamen.
Das sollte aber nicht davon ablenken, dass einige seiner Einwände nicht von der Hand zu weisen sind:
1. Es findet derzeit eine radikale Umverteilung von Vermögen statt. Diese führt nicht nur dazu, dass die Anzahl armer Menschen stetig zunimmt, sondern auch dazu, dass der sogenannte Mittelstand derzeit echt gefährdet ist. Die Geschichte ist voll von Staaten (Rom: 375, Spanien: 711, Deutschland: 1525, Frankreich: 1789, Deuschland: 1848, Frankreich: 1848, Rußland: 1905, Rußland: 1917, Deutschland: nach 1918, der Ostblock: 1989, + beliebig viele weitere), die ihren Mittelstand austrockneten und daran zugrunde gingen. Vor allem aber: derzeit steht eine Mehrheit der Bevölkerung hinter der (sozialen?!) Marktwirtschaft. Der Hauptgrund hierfür ist schlicht, dass sie in einem Umbruch mehr zu verlieren haben, als sie durch den Umbruch gewinnen könnten. Steigt die Anzahl jener an, die eben "nichts mehr zu verlieren haben", dann kann sich diese Situation schnell ändern. Dies Problem betrifft nicht die EU, sondern derzeit den mit Abstand größten Teil der Wirtschaften weltweit. Und da wohl keinem von uns daran gelegen ist, dass Spinner vom Kaliber eines Tsipras wirklich an entscheidende Machtpositionen kommen, muss man sehr wohl die Diskussion der Verteilungsgrechtigkeit führen. In einem früheren Posting habe ich schon mal darauf hingewiesen, dass ich der Meinung bin, dass die primäre Aufgabe der Wirtschaft darin bestehen muss, eben dem Mittelstand möglichst große Vorteile zu verschaffen - das ist derzeit nicht in ausreichendem Maße gegeben.
2. Die Handlungsfähigkeit (oder -willigkeit?) der Politik steht massiv in Frage: darf es sein, dass Entscheidungen in der Politik immer nur ausschließlich auf wirtschaftlichen Argumenten basieren? Tsipras hat dieses Argument gebraucht, um weiter Schulden anhäufen zu können. Das ist natürlich Schwachsinn. Allerdings muss man sich die Frage stellen, welche anderen Normen und ethischen Werte aufgewertet werden sollten, um die Abhängigkeit der Politik von der Wirtschaft zu reduzieren? Ein Primat wirtschaftlicher Argumentation führt zwangsweise früher oder später zu sozial-darwinistischen Tendenzen (und solche hat man sehr wohl auch in der Auseinandersetzung mit Griechenland gesehen, nicht umsonst meinen viele Beobachter, dass an Griechenland ein Exempel statuiert wird)- ich kann mir nicht vorstellen, dass dies ein halbwegs intelligenter Mensch wirklich wünschen kann.
3. Das Solidarprinzip ist in der EU das A und O. Genau deswegen war der (verbale und reale?) Missbrauch des Prinzips durch Tsipras so gefährlich und hat gleichzeitig so schlimmen Schaden angerichtet. Unabhängig davon: ohne Solidarprinzip braucht es die EU nicht. Denn die EU lebt schon lange mit "Nettozahlern" und "Nettoempfängern" - ein Umstand, der meines Wissens nur von den Rechten negativ ausgeschlachtet wird. Dass dieses Prinzip aber auf Dauer hilfreich sein kann und ist, sieht man beispielsweise an der wirtschaftlichen Entwicklung in Polens. Dabei bedeutet aber Solidarprinzip nicht: Zahlt mir meine Schulden, damit ich weiter über meine Verhältnisse leben kann,... Sondern es funktioniert genau richtig, wenn es Hilfe zur Selbsthilfe gibt. Dabei ist aber auch zu beachten: aus dem Umstand, dass Deutschland beispielsweise Nettozahler ist, ergibt sich keineswegs ein höheres Stimmgewicht Deutschlands in Abstimmungen (wie es derzeit aber zu sein scheint) und aus der Tatsache, dass andere Länder beispielsweise Nettoempfänger sind, ergibt sich keineswegs, dass diese ein schlechtes Gewissen deswegen zu haben brauchen. Auch das ist derzeit nicht wirklich umgesetzt...
So gesehen haben wir in Europa sicher viel wieder zu reparieren, was gerade zerstört wurde. Aber hey: es fängt im kleinen an und wie viele hier im Forum würden beispielsweise sagen, sie sind Europäer, bevor sie sagen, sie sind Deutsche, Österreicher, ...? Aber: nur weil der Weg unklar und steinig ist, heißt das nicht, dass er nicht beschritten werden kann - hätte man sich vor 80 Jahren überhaupt nur denken können, wie das heutige Europa ausschaut? Ich bin der festen Überzeugung, dass das Projekt EU schon jetzt ein großer Erfolg ist (was nicht heißt, dass man nichts verbessern kann - davon gibt es mehr als genug :o) und sollten das genug andere auch so sehen, dann wird sich das auch letztlich in einer gestärkten Wirtschaft und einem steigenden EUR widerspiegeln.
Und ich bin sicher, dass es kein Jahrhundert lang dauern wird. Ich will es noch erleben!
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