Hier ein aktueller Beitrag aus dem Spektrum der Wissenschaft:
Das Märchen von der Selbstregulation des Marktes
Auf dem Energiesektor führt das freie Spiel der Kräfte zum Kollaps.
Die Wirtschaft ist – wie das Wetter – ein komplexes Phänomen, das sich nicht durch einfache Modelle beschreiben lässt. Doch während niemand auf die Idee käme, ein Klimamodell aufzustellen, in dem der lokale Ausgleich der Temperaturunterschiede global zu dauerhaft mildem Wetter führt, behauptet das Standardmodell der Marktwirtschaft genau dies: Angebot und Nachfrage pendeln sich in freiem Wechselspiel stets zu Preisen ein, welche die optimale Verteilung aller Güter garantieren.
Spätestens die völlig überraschende Bankenkrise von 2008 hat den Ruf der gängigen einfachen Markttheorien angekratzt. Dafür stieg das Prestige so genannter Ökonophysiker, die seit rund 20 Jahren komplexe Modelle aus Strömungsforschung, statistischer Mechanik und Festkörperphysik auf Wirtschaftsprozesse anwenden und zeigen, wie instabil diese sich verhalten. An der Universität Bremen hat nun eine Gruppe theoretischer Physiker um Stefan Bornholdt die »Ökonophysik anpassungsfähiger Energiemärkte« untersucht und in Simulationen demonstriert, dass solche Märkte zu katastrophalem Kollaps neigen (Physical Review E 92, 012815, 2015).
Ihr Modell beschreibt Individuen, die flexibel auf kurzfristig schwankende Energiepreise reagieren können, indem sie beispielsweise mit dem Anschalten der Waschmaschine warten, bis der Strom ein wenig billiger wird. Ein Marktwirtschaftler wird darin das ideale Mittel sehen, den Strombedarf einem Energieangebot anzupassen, das bei hohem Anteil von Wind- und Sonnenenergie rasch schwankt: Wenn Strom aktuell knapp und somit teurer wird, drosseln die Verbraucher ihre Nachfrage und warten in der Hoffnung, dass der Preis mit steigendem Angebot bald wieder fällt.
Doch wie die Simulation ergibt, pendelt sich auf diesem Markt gar kein Gleichgewicht ein, weil sich die Stromkunden wie beim Sommerschlussverkauf massenhaft auf die billigen Angebote stürzen und dadurch akuten Energiemangel erzeugen. Schon geringe Strompreisänderungen führen so zu derart drastischen Nachfragesprüngen, dass sich Systemkatastrophen kaum abwenden lassen.
In der Bremer Modellrechnung sieht der Computerwissenschaftler Alex Pentland vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge keinen Ausnahmefall, sondern die Demonstration eines typischen Schwachpunkts einfacher Marktmodelle, die seit Adam Smith (1723 – 1790) auf ein Gleichgewicht bauen, das sich durch unabhängig voneinander handelnde Akteure ganz von selbst einstellen soll. In Wirklichkeit, so Pentland, sind Instabilitäten wie Börsenblasen und Blitz-Crashes in einer modernen Gesellschaft vorprogrammiert – erst recht bei vielen mobil vernetzten Konsumenten, die sofort nachmachen, was anderen im Augenblick Vorteil verspricht (Nature 525, S. 190 – 191, 2015).
Dass einfache Marktmodelle insbesondere auf dem Energiesektor nur wenig mit der Wirklichkeit zu tun haben, galt allerdings schon, bevor Internet und Smartphones aufkamen. Energiemärkte hängen seit jeher von politischen Rahmenbedingungen ab. Der Politologe Mohssen Massarrat wies vor Jahren bereits in dieser Zeitschrift darauf hin, dass der Ölpreis niemals dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage gehorcht hat, weil dieser Markt immer von politischen Interessen gelenkt wurde (Spektrum der Wissenschaft 11/2006, S. 54 – 61).
Ein aktuelles Beispiel liefert Otmar Edenhofer vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (Science 349, S. 1286 – 1287, 2015). Er rechnet vor, wie sehr die Nutzung fossiler Energieträger, insbesondere der Kohle, von enormen direkten und indirekten staatlichen Subventionen gefördert wird – Energiewende hin oder her.
LokivonAsgard
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