Aufstand der Hormone
Ortstermin: Der S-Bahn-Schubser von Hamburg steht vor Gericht - und wird von seinen Freunden als Held gefeiert.
Quer im Saal steht eine Wand aus Sicherheitsglas. Sie trennt die Männer - sie sind jung, kaum einer ist älter als 25 - von den drei Richtern, dem Staatsanwalt, den Journalisten, und sie trennt sie auch von Ugur I., ihrem Freund und Kumpel, der gezwungen wird, auf der anderen, der falschen Seite der Wand zu sein.
Ugur, 19 Jahre alt, sitzt neben seinem Verteidiger auf der Anklagebank des Saals 378 im Landgericht Hamburg. Er ist kompakt gebaut, redet nur, wenn er gefragt wird, und er könnte der brave Bruder des Randalierers sein, der gerade in einem Videofilm zu sehen war.
Der Film wurde Anfang Mai von einer Überwachungskamera aufgenommen, in Hamburg, im S-Bahnhof Reeperbahn. Er zeigt Ugur nach einer langen Nacht mit seinen Freunden. Die Nacht begann mit Bier in Ugurs Wohnung, dann ging es ins Schallwerk, zu dreifachen Gin Tonics und einer türkischen Party, dann Richtung Reeperbahn. Und überall waren Frauen, Mädchen, sexy, schön und unerreichbar. Nun ist es kurz nach fünf am Morgen, und sie sind frauenlos, immer noch. Ein Haufen Jungs, aufgedreht und unbefriedigt, die kaum noch gerade gehen können.
Es ist eine Nichtigkeit, der Rempler eines Passanten, der Ugur aus der Balance wirft. Der Mann will die Bahn kriegen, deren Türen sich gerade schließen. Ugur flucht, schlägt mit den Armen, folgt ihm, aber Freunde halten ihn zurück, bis die Türen der Bahn geschlossen sind.
Zwei Frauen laufen nun ins Bild. Sie sind jung, schön, auch sie haben die Nacht gefeiert. Ugur kommt ihnen entgegen. "Sein Blick sagte: Aus dem Weg, ihr Schlampen", das werden die Frauen während des Prozesses berichten. Als sie einander begegnen, stößt Ugur eine von ihnen mit aller Kraft vor die S-Bahn, die in diesem Moment anfährt.
Doch die Frau fällt nicht vor den Zug, sie prallt gegen ihn, ihr rechter Fuß verschwindet zwischen Zug und Bahnsteigkante. Sie hält sich an ihrer Cousine fest, fällt zu Boden und schaut nach unten, auf ihren Knöchel. Der Fuß ist noch da und unversehrt. Sie versteht, sie hätte sterben können, lacht erst über ihr Glück, dann trifft sie der Schock, und sie beginnt zu weinen. Ugur dreht sich zu ihr um, scheint zu grinsen und stapft aus dem Bild.
"Warum haben Sie das getan?", fragt einer der Richter zu Beginn des Prozesses. "Sie hatte irgendetwas zu mir gesagt", antwortet Ugur. "Was war das?", fragt der Richter. Ugur sagt, er könne sich nicht erinnern, er sei zu betrunken gewesen.
Ihm gegenüber, neben dem Staatsanwalt, sitzt Jennifer D., 21 Jahre alt, Schülerin, blass und übermüdet. Sie ist Ugurs Opfer, und sie klammert sich an einen Teddy, der auf ihrem Schoß liegt. Als sie erzählt, was sich auf dem S-Bahnhof zugetragen hat, beginnt Ugurs Fanclub hinter der Wand wütend zu murmeln. Jennifer erzählt, dass sie seit dem Angriff täglich ans Sterben denke, dass sie ein Testament aufgesetzt habe. Das Murmeln wird lauter, die Wachmänner richten sich auf, der Richter droht, den Saal räumen zu lassen.
In den Verhandlungspausen steigt die Spannung, statt zu sinken. Draußen auf dem Gang stehen Ugurs Fans, sie fordern Gerechtigkeit und meinen Freispruch. Drinnen, im Saal, verliert Jennifer die Fassung: "Ich werde mich in meinem Zimmer einmauern, ich gehe nicht mehr raus. Die wollen mich kriegen." Wenn sie den Saal verlässt, wird sie von Wachmännern durch eine schulterbreite Gasse eskortiert, die Ugurs Freunde widerwillig bilden. Durch sie müssen auch die Zeugen, die dort nicht allein lang wollen, und sich von Justizangestellten begleiten lassen.
Es ist ein kleiner Kampf der Kulturen, der da ausgetragen wird im Landgericht Hamburg, ein Kampf, der jeden Tag stattfindet, in Schulen, Discotheken, auf der Straße. Auf der einen Seite stehen türkische Jungs, erzogen im Glauben an die männliche Überlegenheit und bis zur Unterlippe voll mit Testosteron. Burschen wie sie, Vertreter des pubertierenden Patriarchats, sehen in Jennifer kein Opfer, sondern die Täterin. Was macht sie nachts ohne Freund, ohne Bruder auf der Reeperbahn? Warum zieht sie sich so aufreizend an? Und warum jammert sie? Es ist doch nichts passiert. Nicht einmal einen blauen Fleck hat sie gehabt. Auf der anderen Seite steht eine junge Frau, die das Recht haben will, auch morgens um fünf Uhr unbehelligt nach Hause fahren zu dürfen.
Mit naiver Freude schildern die Jungs als Zeugen, wie viel Ugur, ihr Held, während der Nacht getrunken hat: sechs Holsten, zwei Rigo und dann vier Stunden lang Gin Tonic. Und er konnte immer noch gerade gehen und ziemlich klar reden, er hat sich sogar noch geprügelt, wurde verhaftet und konnte fliehen. Was für ein Kerl.
Der sitzt nun da auf seiner Anklagebank, blickt auf den Tisch vor sich, als läge dort sein Manuskript und ringt um eine Entschuldigung: "Du musst dich nicht vor mir fürchten, ich kenne dich doch gar nicht. Es tut mir Leid." Jennifer würdigt ihn keines Blickes.
Dann wird der Prozess vertagt. Die Wachmänner und Ugur stehen auf, seine Freunde ebenfalls. Sie rufen seinen Namen und ballen die Hände zu Fäusten, den Daumen nach oben gereckt.
Ugur winkt zurück und verschwindet hinter einer Tür. Das Letzte, was man sieht, ist sein Gesicht. Er hat Angst.
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gruß Maxp.
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