Deutschland, deine Helden
Lieber tot als Zweiter, heißt ein Spruch aus dem Schatzkästlein der Sportweisheiten. Und jetzt ist Jan Ullrich nur Vierter der Tour de France geworden. Damit ist er für die öffentliche Meinung schon so gut wie vermodert. Hysterisch verkündet die deutsche Sportberichterstattung das Ergebnis der Autopsie: Kein Sieger-Gen! Faulpelz! Ein im Kollektiv sozialisierter Ossi, wie sein Mannschaftskamerad Klöden, immerhin Zweiter dieser Tour. Auch ihm wird nun vorgeworfen, dass er sich lieber im Windschatten desjenigen hält, den er eigentlich abgehängt hat. Ihnen fehle die Gier, der Beste zu sein, mit der allein man es im (kapitalistischen) Westen zu was bringt – behaupten die Experten.
Ja, sind die denn alle mit dem Hammer gepudert?! Schon vergessen, dass Ullrich mal gewonnen hat, die Tour, die Weltmeisterschaft, Gold bei den Olympischen Spielen? Nun immerhin Vierter beim härtesten Radrennen der Welt – ein Erfolg, hinter dem eine monatelange Quälerei steckt, von der die vielen miserabel vorbereiteten Kommentatoren kaum eine Vorstellung haben. Von den anderen zuvor hoch gehandelten Konkurrenten des Amerikaners Lance Armstrong erreichte keiner das Ziel in Paris. Auch Ullrich war krank – und fuhr weiter. Dafür muss er sich nun in der Neiddebatte der deutschen Boulevardpresse die Frage gefallen lassen, ob er auch sein Geld wert sei.
Deutschland liebt seine Sporthelden nicht, es stellt nur Ansprüche an sie. Mehr als anderswo sind sie Stellvertreter der Nation, die jene Kämpfe austragen und Siege erringen müssen, die sich das Land auf anderen Feldern aus guten historischen Gründen versagt. Ullrich wurde zum Erlöser einer sich verregnet fühlenden Nation hochgejubelt; zwischen Fußball-Elend, Rückfall in die 42-Stunden-Woche und den absehbaren Olympia-Pleiten sollten seine Sommersprossen das leuchtende Symbol dafür sein, dass dieses Land doch noch für etwas taugt. Dafür ist er nach über 83 Stunden im Sattel 8 Minuten und 51 Sekunden zu langsam gewesen; zur Strafe türmt sich der deutsche Selbsthass nun vor ihm höher auf als jeder Alpenpass.
Es mag gottgefällig sein, seine Talente nicht zu vergraben, sondern mit ihnen zu wuchern. Aber das tut Ullrich, seit Jahren, uns zum Vergnügen. Er ist nichts und niemandem etwas schuldig geblieben, nicht einmal seinem Teamchef Walter Godefroot, der ihn hoch bezahlt und mit harter öffentlicher Kritik zum Niedermachen freigegeben hat. Denn selbst mit der Form eines Armstrong hätte Ullrich diesmal die Tour nicht gewinnen können, weil das von Godefroot zusammengestellte Team zu schwach und zudem schlecht geführt war. Radrennen ist Mannschaftssport.
Armstrong siegt, weil er gnadenlos gegen sich selbst ist, seine Teamkollegen unterjocht, Konkurrenten demütigt und maßregelt. Wie würde uns so ein Nationalheld gefallen, der jeden Herzschlag misst, sein Müsli abwiegt und aussieht wie ein Vampir? Der nur noch mit Begriffen wie Topkiller, Tyrann, Despot zu fassen ist? Da bewundern wir doch lieber den netten Jungen mit den Gewichtsproblemen nach Weihnachten.
Christof Siemes
(c) DIE ZEIT 29.07.2004 Nr.32
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