Richard Sennet: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus*
von
PETER NEUHAUS
Der in London und New York lehrende Soziologe und Zeitdiagnostiker Richard Sennet, hierzulande bekannt geworden durch sein Buch "Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität" (deutsch 1985), legt mit seiner Studie "Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus" (deutsch 1998) eine kritische, 'implizite Anthropologie' des gegenwärtigen kapitalistischen Wirtschaftssystems vor, die er in der These von der "Corrosion of Character" (so der englische Originaltitel, der die Dramatik der Analyse Sennets weitaus treffender einfängt als die deutsche Übertragung) konzentriert und entlang von biographischen Exposés und ökonomischen Datenerhebungen erläutert.
Die aktuelle Transformation des herrschenden Wirtschaftssystems vom "industriellen" zum "flexiblen" Kapitalismus stellt nach Sennet weit mehr dar als eine bloße "Mutation" (S. 10). Die Charakteristika dieses "flexiblen Kapitalismus" (S. 10) sind im wesentlichen (1) der "dis-kontinuierliche Umbau von Institutionen" (S. 59), (2) die "flexible Spezialisierung der Produktion" (ebd.) und (3) die "Konzentration der Macht ohne Zentralisierung" (ebd.).
(1) Der diskontinuierliche Umbau von Institutionen ist gekennzeichnet durch den Abbau traditioneller Hierarchien; dezentralisierte Firmenorganisation in "lockeren Netzwerken" (S. 60) anstelle kompakter Institutionen; "Re-engineering" als permanente Effizienzsteigerung durch innerbetriebliche Rationalisierung unter der Ägide professioneller Consultingbüros, die aus den alten, an "ihren Betrieb" gebundenen Belegschaften eine bloße Kalkulationsmasse menschlicher Arbeitskraft formen, die nach Belieben umstrukturiert, verschoben oder eben auch "freigesetzt" werden kann.
(2) Die flexible Spezialisierung der Produktion ersetzt die feste und andauernde Bindung an eine wohldefinierte Produktpalette durch die kurzfristige und jederzeit revidierbare Besetzung neu auftauchender Absatznischen; die computerisierte Hochtechnologie ermöglicht die jederzeitige Umprogrammierung der Maschinen auf den jeweiligen, befristeten Bedarf; die Aufgaben der Arbeitnehmer unterliegen einem ständigen Wechsel "innerhalb einer Woche und manchmal von einem Tag auf den anderen" (S. 65).
(3) Die Konzentration von Macht ohne Zentralisierung betreibt den Abbau antiquierter Machtstrukturen; sie verlagert Entscheidungskompetenzen auf untere Ebenen in weitgehend selbständig agierenden "Teams"; sie verschlankt Bürokratien; sie siedelt Produktionen in Heimarbeit an und diversifiziert Arbeitszeit zur sog. "Flex-Zeit" (S. 72), einem Mosaik individueller Zeitpläne ohne kommunikative Ausrichtung. Der Eindruck, der flexible Kapitalismus sei darum gleichsam 'demokratischer' oder 'partizipatorischer', weil er Macht auf diese Weise dezentralisiere, täuscht nach Sennet jedoch. Die Macht der Konzernleitungen und Managementeliten wird lediglich weniger anschaulich, unpersönlicher, abstrakter. Nicht der alte Vorgesetzte oder der 'Chef' verkörpert nunmehr die Macht, sondern ein umfassendes, computergestütztes Informationsnetz überzieht die Arbeitnehmer, wo immer sie sich befinden. Sie "tauschen", so Sennet, "eine Form der Überwachung - von Angesicht zu Angesicht - gegen eine elektronische ein." (S. 74)
Dieser neuartige, flexible Kapitalismus stürzt den Menschen in extreme Turbulenzen und gerät ihm zur radikalen Bedrohung seines "character", also seiner subjekthaft fundierten Identität und Individualität. Sennet bekennt sich zu Beginn seiner Untersuchung freimütig dazu, "philosophische Ideen auf die konkrete Erfahrung von Individuen angewandt oder an dieser gemessen" (S. 12) zu haben, und genau das erlaubt es ihm, den Deformations- und Destruktionsdruck des flexiblen Kapitalismus auf den ihm ausgelieferten Menschen offenzulegen und auf diese Weise eine "kritische Anthropologie" jenes kapitalistischen Systems zu umreißen, die es am Ende als das entlarvt, was es vielleicht krasser nie gewesen ist als augenblicklich: ein Moloch, der verschlingt, wer ihm zu nah kommt. Sennet zählt auf: "die Stärke schwacher Bindungen (Mark Granovetter)" (S. 28); Bedeutungsverlust von "Loyalität und gegenseitiger Verpflichtung" (ebd.); "kreative Zerstörung" (Schumpeter) als Umschreibung für die fortwährenden Umwälzungen in den Produktionsprozessen (S. 36); "ständig dem Risiko ausgeliefert sein" (S. 110); Aktivität um jeden Preis, denn "in einer dynamischen Gesellschaft ist der Stillstand wie der Tod" (S. 116); "Negation der Erfahrung" (S. 129); "eine ironische Sicht des Ich", das sich selbst nicht mehr ernstzunehmen vermag (S. 155); vor allem schließlich die Erfahrung der Zeit im Bann des flexiblen Kapitalismus: "das Regime der kurzfristigen Zeit" (S. 26), "die Angst vor der Zeit" (S. 129); ihre "Desorganisation" (S. 131), ihre "Fragmentierung" (S. 182) - "Zeit light" (S. 131).
Das Resultat für den einzelnen liegt in der Unmöglichkeit, das eigene Leben noch "als lineare Erzählung verständlich" (S. 17) machen zu können; statt dessen verharrt das bedrohte Individuum "in einem Zustand des Dahintreibens" (S. 22) - der "Drift" (S. 37). Das Grundgefühl einer solchen Existenz unter dem Hochdruck des flexiblen Kapitalismus ist "die Angst" (S. 10): "Persönliche Ängste sind tief mit dem neuen Kapitalismus verknüpft." (S. 128)
Politisch fragwürdig, ja gefährlich scheint Sennet der Versuch, die bedrohte Identität entweder durch einen demonstrativen "Kulturkonservativismus" (S. 33) sichern zu wollen, der im Grunde "nicht mehr (ist) als eine Art Testament der Kohärenz, die er [gemeint ist Rico, ein erfolgreicher Fisch im Netz des flexiblen Kapitalismus, dessen Geschichte Sennet erzählt; P.N.] in seinem Leben vermißt" (ebd.) oder aber - diesem Thema ist das ganze letzte Kapitels des Buches gewidmet - "der Gebrauch des 'Wir' zu einem Akt des Selbstschutzes" (S. 190), "die Sehnsucht nach Gemeinschaft" (ebd.), wie sie sich beispielsweise in der kommunitaristischen Bewegung ausdrücke und nur allzu oft auf die "Ablehnung von Immigranten oder anderer Außenseiter" (ebd.) gründe.
Sennet selbst setzt seine Hoffnung auf die Rettung des "character", also auf die Abwehr der Korrosion des Individuums weniger auf das von Seyla Benhabib, Amy Gutman und Dennis Thompson entwickelte und von Sennet durchaus als bedenkenswert eingeschätzte Konzept einer 'deliberativen Demokratie' (vgl. S. 198), das dem offenen Austrag von Konflikten innerhalb einer Gesellschaft mehr zutraut als dem "oft oberflächliche(n) Teilen gemeinsamer Werte, wie es im modernen Kommunitarismus erscheint" (ebd.), als vielmehr - in der Spur von Emmanuel Lévinas und Paul Ricoeur - auf das fundamentale anthropologische Defizit des flexiblen Kapitalismus, nämlich die Suggestion, daß der Mensch glaubt, auf den (Mit-)Menschen verzichten zu können. Sennet hält dagegen: "Ein Regime, das Menschen keinen tieferen Grund gibt, sich umeinander zu kümmern, kann seine Legitimität nicht lange aufrechterhalten."
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