Sie kam, sah - und gefiel
Alle loben Bundeskanzlerin Merkel für ihre vermittelnde Rolle im Streit über die EU-Finanzen
Von Wulf Schmiese
Brüssel. "Offen gestanden, das Beste an ihr ist", sagt ein Vertrauter von Tony Blair über die Bundeskanzlerin in der entscheidenden Verhandlungsnacht von Freitag auf Samstag, "daß sie nicht Gerhard Schröder ist." Der britische Unterhändler saß soeben noch mit am Tisch oben im fünften Stock des EU-Ratsgebäudes. Er ist später dabei, als sie sich einigen: sein Chef Blair als amtierender Ratspräsident, Jacques Chirac als dessen mißgünstigster Gegner und Angela Merkel als Mittlerin. Der Blair-Mann war auch im Juni dabei, als gescheitert war, was nun gelungen ist: die Verständigung auf den Haushalt der Europäischen Union von 2007 bis 2013.
Das ist viel in jeder Hinsicht: Viel Geld natürlich, es geht um 862,36 Milliarden Euro. Aber es ist zugleich viel gespartes Geld für die Geberländer, denn ursprünglich wollte die EU-Kommission eine Billion Euro für die sieben Jahre zugesagt bekommen. Vor allem aber ist es viel Zukunft für die EU, die sonst, wenn auch diese Haushaltsverhandlung mißlungen wäre, wohl Jahr für Jahr aufs neue von dem hätte leben müssen, was die Mitgliedstaaten zu geben bereit gewesen wären. Nun aber gibt es "Planungssicherheit", wie alle in Brüssel erleichtert sagen.
Angela Merkel hat dazu in hohem Maße beigetragen, und somit gibt es auch für sie viel - an Lob, Achtung und Ansehen. Der Blair-Vertraute sagt, sie habe wirklich die Lösung gewollt und sich von niemandem vereinnahmen lassen. Schröder hingegen habe schon vor den Gipfeltreffen seine "Deals" mit Frankreich geschlossen und deshalb bei den Briten als "Chirac's mini-me" gegolten, als kleine Kopie des französischen Präsidenten. "Das gab es mit Frau Merkel nicht", sagt der Brite. "Ihr konstruktives Verhalten wirkte auf alle konstruktiv." Es ist drei Uhr in der Früh am Samstag, als Frau Merkel mit einem fröhlichen "Guten Morgen" aus der Schlußrunde kommt. Ihr Außenminister Frank-Walter Steinmeier blinzelt gegen das helle Neonlicht und lächelt ein "geschafft".
Stundenlang haben die beiden zuletzt warten müssen, bis die Briten endlich den dritten und letzten ihrer Finanzvorschläge verteilten. Um 22.30 Uhr hatte Blair seinen "finalen Vorschlag" angekündigt. Das werde sein letztes Wort zum Briten-Rabatt sein, hatte er gewarnt, und die anderen Länder könnten daran entscheiden, ob es in Europa vorangehen solle oder eben nicht. Energisch hatte Blair geklungen, drohend, als läge ein Scheitern diesmal nicht an ihm. Drei Stunden später gingen die Vorschläge dann, gedruckt auf 34 Blatt, an die 24 Regierungschefs und deren Außenminister.
Frau Merkel und Steinmeier hatten da viel mit den neuen Kollegen die Zeit vertrieben, bevor sie, wie alle ihre Kollegen auch, rechnen ließen. In mitgebrachten Rechenpools, gestellt vom Auswärtigen Amt und dem Bundesfinanzministerium, durchwalkte Spezialsoftware die britischen Zahlen, die zügig errechnet, was das Ganze unterm Strich Deutschland kosten würde: Insgesamt zahlt Deutschland für die Zeit von 2007 bis 2013 brutto eine Milliarde Euro weniger, als es nach dem Vorschlag Luxemburgs getan hätte, jener Finanzvorschlag, an dem das letzte Gipfeltreffen im Juni gescheitert war.
Deutschlands Erfolg ist aber ein anderer: Es ist der nächtliche Vorschlag der Bundeskanzlerin gewesen, den Blair schließlich als seinen Kompromiß anbietet: Von 2007 bis 2013 soll jedes Mitgliedsland jährlich 1,045 Prozent des Bruttonationaleinkommens an die EU zahlen. Das ist etwas mehr, als die Briten ursprünglich wollten, etwas weniger, als Luxemburg vorschlug, war aber vor allem diplomatisch ein geschickter Zug der Kanzlerin. Denn damit hatte sie, die europäisch Auftretende, vor allem den neuen und ärmeren Mitgliedstaaten klargemacht, daß es auch für das vermeintlich gütige Deutschland eine Hilfsobergrenze gibt. Als "Aufruf zur Mäßigung" ließ Frau Merkel ihren Vorschlag verbreiten - und alle machten letztlich mit.
Die Bundeskanzlerin hatte den streitlustigen Briten und Franzosen von Anbeginn gesagt, sie müßten aufeinander zugehen. Zugleich hatte sie in vielen Einzelgesprächen mit Blair und Chirac für die Position des jeweils anderen geworben. Sie hatte dargelegt, ohne sich selbst wichtig aufzuplustern wie in dieser Männerwelt üblich, welche Ängste die kleineren Staaten haben. Die wiederum hatte sie zu Pragmatismus aufgefordert und auch auf ihre eigene Erfahrung als Ostdeutsche bei der Verhandlung um die deutsche Einheit verwiesen. Es gehe hier nicht um Ehre und Prinzipien, sondern um das Funktionieren eines Staatenbündnisses von Leuten, die rechnen könnten und müßten.
England wollte, daß in den nächsten Jahren die an Frankreich längst zugesagten Agrarsubventionen neu debattiert werden. Frankreich verlangte, daß England endlich von seinem inzwischen unverschämt hohen Rabatt läßt, den 1984 Margaret Thatcher ausgehandelt hatte. Beides las die Bundeskanzlerin nun zufrieden um zwei Uhr nachts in Blairs Papier. Der Briten-Rabatt solle bis 2013 nicht grundsätzlich angetastet werden, stand da zwar, aber um 10,5 Milliarden geringer ansteigen als vor zwei Jahrzehnten vereinbart. Die von Großbritannien verlangte Neuregelung der Agrarsubventionen sollte geprüft werden. Es kam am Ende etwas anders, weil alle Staaten noch hier und da Verbesserungen für sich verlangten. Die stehen in der "Goodie-Box", der Bonbon-Schachtel, wie bei Außenminister Steinmeier schmunzelnd das Kapitel "Additional Provisions" genannt wird.
Ungarn bekommt 200 Millionen für jene Region, Zypern für diese, Prag will ebenso bedient sein, Nordirland sowieso, Spanien braucht dringend noch 100 Millionen für die armen Kanarischen Inseln, Italien schlägt sogar zwei Milliarden an Strukturfonds heraus, und ein wenig muß da Paris noch für sein Korsika erbitten. Selbst "the Eastern Länder of Germany" werden mit 300 Millionen Euro bedacht und Bayerns Grenzgebiete mit 100 Millionen. Doch weil Polen immer noch unzufrieden ist, schiebt die Bundeskanzlerin davon ein Viertel dem armen Nachbarn rüber - und alles ist gut.
Großbritanniens sonst gern deutschland- und EU-kritische Presse überschlägt sich am Samstag vor Freude über den gelungenen Ausgang der britischen Ratspräsidentschaft. Für den "Guardian" hat Frau Merkel einen "deutschen Stilwechsel" geschafft, "the Merkel tactics" bedeuteten, daß nun Bewegung in die EU komme. Für die "Financial Times" spielt sie die Schlüsselrolle, die "key figure" der EU, wie es früher Helmut Kohl gewesen sei. "Ja, wir haben eine wichtige Rolle gespielt", sagt die Gelobte nachts um drei, keineswegs prahlend, sondern so, wie es war und wie alle anderen bestätigen. Steinmeier, einst fest an Schröders Seite, dankt der Bundeskanzlerin für die "bestandene Bewährungsprobe". Ihr Einsatz sei "bemerkt worden". Frau Merkel wiederum lobt die Teamarbeit mit Steinmeier und die große Koalition, Deutschlands wie Europas.
Die Neue machte den Vorschlag, den schließlich Tony Blair als seinen Kompromiß anbietet. Großbritanniens Presse überschlägt sich vor Freude, lobt den Stilwechsel und "the Merkel tactics".
Erleichterung, Zweifel - und viele Komplimente
Günter Verheugen, EU-Industriekommissar: "Mit diesem Ergebnis öffnet sich ein Weg aus der Krise. Wir haben nun den Kopf frei für andere Zukunftsaufgaben." Der SPD-Politiker lobte Kanzlerin Merkel: "Sie hat bei ihrem ersten Auftritt eindrucksvoll gezeigt, welche Rolle Deutschland spielen kann: gute Kontakte mit allen Seiten zu pflegen, eng mit Frankreich zu arbeiten, ohne das Vertrauen der anderen Mitglieder zu verlieren."
Edmund Stoiber, CSU-Vorsitzender: "Das ist ein guter Tag für Europa. Angela Merkel hatte einen großen Anteil daran, indem sie Chirac und Blair zusammengebracht hat." Und: "Angela Merkel hat für Deutschland mehr rausgeholt, als die frühere rot-grüne Bundesregierung im Sommer gegenüber der EU bereits zugestanden hatte."
Guido Westerwelle, FDP-Vorsitzender: "Dieser Kompromiß ist ein Notbehelf, aber keine Strukturreform."
Dieter Althaus (CDU), Ministerpräsident von Thüringen: "Es ist nicht nur ein guter Kompromiß erzielt worden, sondern ein für die neuen Länder deutlich besserer Kompromiß."
Wolfgang Böhmer (CDU), Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt: "Wir wissen jetzt wenigstens, wie es weitergeht. Schlimm wäre es gewesen, wenn es keine Einigung gegeben hätte."
Wolfgang Tiefensee (SPD), Bundesverkehrsminister, zuständig für den Aufbau Ost: "Das ist ein gutes Ergebnis für Deutschland insgesamt." Aber: "Dem Osten hätte es gutgetan, wenn die Mittel noch deutlicher erhöht worden wären."
Wolfgang Gerhardt, FDP-Fraktionschef: "Ein europäischer Mehrwert ist nicht ersichtlich." Der Kompromiß bewege sich "in den üblichen Methoden der finanziellen Gegenrechnungen".
Renate Künast, Grünen-Fraktionschefin: "Wir sind froh, daß der gordische Knoten zerschlagen ist. Jetzt ist endlich Raum, Europa weiterzuentwickeln."
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 18.12.2005, Nr. 50 / Seite 8
MfG kiiwii
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