Kommentar Der Faktor Glaubwürdigkeit Von Nikolaus Piper Nun, da Franz Müntefering die SPD führen soll, fürchten manche, dass sich Gerhard Schröders Agenda 2010 grundlegend ändert, dass die Reformpolitik konzilianter, verwässerter, jedenfalls irgendwie sozialdemokratischer wird. Manche hoffen das auch. Die Frage liegt nahe: Wenn denn schon die Schröder-Münte-Rochade eine Konsequenz aus den katastrophalen Ergebnissen der Meinungsumfragen war, dann wäre es doch ein Wunder, wenn sich die Wut der potenziellen Wähler nicht auch in den Inhalten der Politik niederschlagen würde.
Die rot-grüne Bundesregierung sieht sich einem Dilemma gegenüber, das in einer Demokratie für jeden unausweichlich ist, der unpopuläre Wirtschaftsreformen durchsetzen will: Es ist in den Wirtschaftswissenschaften bekannt als das Problem der J-Kurve. Die Reformen machen das Leben für die Menschen erst einmal härter. Wie bei einem ?J? gehen die Kurven für das Einkommen und die Zufriedenheit der Wähler nach unten, ehe die ersten Verbesserungen eintreten können ? in der Medizin würde man von einer Erstverschlechterung sprechen.
Das Problem dabei ist: Wenn die Dinge schlechter werden, weiß ich nicht, ob ich mich wirklich nur auf dem kurzen Ende eines ?J? befinde und nicht doch auf einer langen, abschüssigen Bahn. Wenn die Reformpolitik beginnt, sind die schlechten Dinge konkret und wahrnehmbar, die guten bleiben erst einmal nur Hoffnungen und Versprechungen. Und genau dort befindet sich Schröder mit seiner Mannschaft heute.
Leise Symphatien mit dem britischen Modell Ökonomen misstrauen notorisch den Prozessen der Demokratie in so einer Lage. Sie wissen aus ihren Modellen ? und diese sind in der Praxis auch gut belegt ?, dass sich die Angst vor der Veränderung viel besser organisieren lässt als die Hoffnung auf neue Zukunftschancen.
Die Beschäftigten eines Weiterbildungsträgers, deren Jobs durch die Reform der Bundeagentur für Arbeit bedroht sind, melden sich lautstark zu Wort. Die jungen Leute, die bei einer erfolgreichen Reform künftig zukunftsträchtige Arbeitsplätze bekommen werden, können sich logischerweise heute noch gar nicht rühren.
Wegen dieses Strukturproblems haben viele Wirtschaftsexperten eine leise Sympathie für das britische Demokratie-Modell, in dem der Premierminister mit einer ausreichenden Mehrheit im Unterhaus zwischen den Wahlen fast unumschränkt herrschen kann. In keinem anderen westeuropäischen Land als in Großbritannien wären so radikale Reformen möglich gewesen, wie sie Margaret Thatcher in den achtziger Jahren durchgesetzt hat.
Deutschland ist ein Bundesstaat, es gibt das Verhältniswahlrecht, und der Bund ist bisher fast immer von Koalitionen regiert worden. Und wer die Probleme von Tony Blair betrachtet oder den Niedergang der Torys nach Thatcher, dem kommen Zweifel, ob er sich hier zu Lande wirklich britische Verhältnisse wünschen sollte.
Reformanreize in Übersee So oder so ? dem Bundeskanzler bleibt gar nichts anderes übrig, als für die unpopulären Reformen zu kämpfen. Wie dies funktionieren kann, haben Sozialdemokraten in mehreren Ländern gezeigt. Das berühmteste Beispiel ist Neuseeland: Dort hat die Labour Party 1984 durch radikalliberale Reformen den Staatsbankrott abgewendet und wurde 1987 dafür mit einem eindrucksvollen Wahlsieg belohnt.
Die Bilanz der Reformpolitik ist durchaus zwiespältig: Einige Maßnahmen haben sich als falsch erwiesen, manches wurde später zurück genommen, die Regierungspartei zerbrach beinahe an den inneren Konflikten ? insgesamt aber geht es dem Land heute besser, der Zusammenbruch wurde abgewehrt.
Auch die schwedischen Sozialdemokraten haben nach einer schweren Bankenkrise zu Beginn der neunziger Jahre dem dortigen Wohlfahrtsstaat eine Reformkur verpasst. Vielen SPD-Reformern gilt Schweden heute als Vorbild, schließlich ist die Arbeitslosigkeit dort viel niedriger als in Deutschland, der Staatshaushalt erwirtschaftet Überschüsse. Der Mangel an wirtschaftlicher Dynamik in dem Land deutet jedoch darauf hin, dass die schwedischen Reformer noch zu zaghaft vorgegangen sind.
Großbritannien, Neuseeland, Schweden ? nirgends lief der Reformprozess einfach oder gar widerspruchsfrei. Auch wohlmeinende und gut informierte Reformpolitiker können nicht in die Zukunft blicken und machen Fehler. Über die Unwägbarkeiten der ersten Phase der Reformpolitik, über Rückschläge und Streit kommen Regierungen nur hinweg, wenn sie den Wählern das Gefühl vermitteln: Die wissen, was sie tun.
Das Problem Glaubwürdigkeit Hier liegt bis heute das zentrale Problem Schröders: Glaubwürdigkeit. Der Kanzler macht ungefähr das Gegenteil dessen, was er vor der Wahl versprochen hat. Bis heute betreibt er eine ?Finanzpolitik auf Zuruf?, wie dies der Sachverständigenrat im Herbst formuliert hat. Die Gesundheitsreform tut allen weh, besonders den Stammwählern der SPD.
Gleichzeitig ahnen alle, und das zu Recht, dass mit ihr das Problem gar nicht gelöst ist. Aus dem Umfragetief wird die SPD nur herauskommen, wenn die Wähler Sinn und Linie in der Reformpolitik erkennen. Die Chance des Müntefering-Coups wäre vertan, wenn nun eine neue Runde der Winkelzüge einsetzte: Hier eine kleine Korrektur, da eine Interessengruppe befriedet, dort das ?Ende der Belastbarkeit? verkündet.
(SZ vom 10.02.2004).
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