Wir fordern die Unionsparteien CDU und CSU auf, mehr Sensibilität und Sachlichkeit in die Debatte um Jugendgewalt zu bringen. Wir verurteilen die abscheulichen Überfälle, wie die in der Münchner U-Bahn, und verlangen, dass straffällige Jugendliche, egal, welcher Herkunft, mit der ganzen Härte unserer bestehenden Gesetze konfrontiert werden.
Der hessische Ministerpräsident und Wahlkämpfer Roland Koch ergreift die Gelegenheit, aus dem feigen Beinahemord in der Münchner UBahn politisches Kapital zu schlagen, und fordert schärfere Gesetze, härtere Strafen, mehr Gefängnisse, die Rückkehr zu alten Tugenden und eine schnellere Ausweisung von Straftätern mit Migrationshintergrund. Hätte der hessische Ministerpräsident den Vorfall von München auch dann politisch zu missbrauchen versucht, wenn die Täter zufällig keinen Migrationshintergrund hätten?
Ein Wahlkampfpopulismus, wie ihn Roland Koch wieder propagiert, trägt nicht zur Lösung der Problematik Jugendgewalt bei, sondern schürt rassistische Ressentiments. Dass in der hessischen Wirklichkeit unter dem seit immerhin neun Jahren amtierenden CDU-Ministerpräsidenten Koch Hunderte Richter fehlen, etliche Polizeistellen abgebaut wurden und Jugendstrafsachen bundesweit mit am längsten dauern, gehört offenbar mit zum unvermeidlichen Unterschied zwischen inszenierter Rhetorik und lösungsorientierter Politik. Statt mit konzeptionellen Überlegungen zur Problemlösung beizutragen, versucht Roland Koch durch seine an Fremdenfeindlichkeit grenzende Wahlkampfrhetorik von seiner fehlgeschlagenen Politik abzulenken.
Jugendgewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wir bestreiten nicht, dass die Zahl der Migranten unter den jugendlichen Straftätern hoch ist. Dafür gibt es Gründe, die ausführlich analysiert werden müssen. Nur ist umgekehrt die übergroße Mehrheit junger Männer mit Migrationshintergrund eben nicht kriminell. Das wird bei der Debatte allzu gern vergessen. Daher sind wir besonders darum bemüht, Lösungen für die ernste Problematik zu suchen. Zur Lösungsfindung gehört sicherlich auch, das Problem zu benennen und darüber zu diskutieren. Jedoch muss diese Diskussion sachlich, konstruktiv und lösungsorientiert geführt werden. Roland Koch spaltet mit seinen rechtspopulistischen Äußerungen die Gesellschaft und gefährdet damit die langsam gedeihende Integrationspolitik. Die Unionsparteien müssen bei der Diskussion endlich anerkennen, dass das Problem kein ethnisches ist, sondern, wie zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, ein soziales!
Je mehr sich sozial benachteiligte Milieus etablieren, desto gravierender wird auch die Gewaltproblematik werden. Besonders in den Migranten-Communitys fehlt es jungen Männern sehr oft an positiven Vorbildern, die sie respektieren und an denen sie sich orientieren können. Es fehlt ihnen überhaupt an Perspektiven, an positiven Lebenserfahrungen und einem Selbstwertgefühl.
Eine Verschärfung des Jugendstrafrechts oder die Ausweisung von straffälligen Jugendlichen sind allerdings Forderungen, die zeigen, dass kein wirkliches Interesse an der Lösung des Problems Jugendgewalt vorhanden ist. Ferner gelten Knasterfahrungen als Auszeichnung, wo die Jugendlichen Schwerkriminalität und exzessive Gewalt oft erst praktisch kennenlernen. Und die jüngeren Brüder machen es den älteren Brüdern nach ? von wem sollten sie auch anderes lernen, wenn sie keine Vorbilder haben?
Die beste Prävention gegen Jugendgewalt ist weiterhin eine gute Bildung und Ausbildung. Investitionen in Bildung, die individuelle Förderung der Jugendlichen, die Stärkung der Schulsozialarbeit und echte Bildungschancen, besonders für sozial Schwache oder Jugendliche mit Migrationshintergrund, sind wichtige Bausteine zur Lösung des Problems. Neben der Stärkung der Bildungsinstitutionen, der Jugendhilfe und der Jugendgerichte sowie ihrer Vernetzung ist auch die Förderung und Einbindung der Eltern wichtig. Dazu müssen wir auch an die kulturellen Hintergründe ran: Stichwort »Machokultur«. Eltern müssen begreifen, dass die Söhne nicht alles tun und lassen dürfen, was sie wollen.
Die Jugendlichen sind in Deutschland geboren und aufgewachsen, hier sozialisiert und hier straffällig geworden. Warum sollten andere Länder, zu denen die Jugendlichen oftmals kaum eine Beziehung haben, für die Fehler und Missstände unserer fehlgeschlagenen Integrations- und Jugendpolitik büßen? Straffällige Jugendliche mit Migrationshintergrund sind ein Teil unserer Gesellschaft. Das erfordert die Resozialisierung dieser Jugendlichen in dem Land, in dem sie geboren und herangewachsen sind.
Wir fordern von den Unionsparteien, mehr Sensibilität und Sachlichkeit in die ernsthafte Diskussion um Jugendgewalt einzubringen. Der Ruf nach Verschärfung von Gesetzen und nach Abschiebung bringt uns nicht weiter. Ein Feuer wird nicht dadurch gelöscht, dass Öl dazugegossen wird!
Özcan Mutlu und Bilkay Öney, Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses; Cem Özdemir, Mitglied des Europäischen Parlaments; Feridun Zaimoglu, Schriftsteller; Hatice Akyün, Journalistin und Autorin; Zafer Șenocak, Autor; Erhan Emre, Schauspieler und Produzent; Renan Demirkan, Schauspielerin; Hülya Duyar, Schauspielerin; Erdal Yildiz, Schauspieler; Prof. Dr. Havva Engin, Juniorprofessorin für deutsche Sprache und Literatur, PH Karlsruhe, Erol Yildiz, Privatdozent am Institut für Vergleichende Bildungsforschung, Uni Köln; PD Dr. Haci-Halil Uslucan, Uni Potsdam; Mehmet Daimagüler, Fellow Yale- University; Sina Afra, Manager; Ünal Yüksel, Musikproduzent; MuhaBbet, Musiker; Oktay Urkal, Box-Profi; Cengiz KoÇ, ehemaliger Kickbox-Weltmeister; Atalay GümüȘboGa, Rechtsanwalt; Duran Korkmaz, Zahnarzt und allgemeiner Arzt; u. a. Seite « 1 | 2 | http://www.zeit.de/2008/05/Offener-Brief
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