Hamburg (ddp). Anderthalb Jahre nach dem Hungertod der siebenjährigen Jessica sorgt in Hamburg erneut ein verwahrlostes Kind für Schlagzeilen. Im Stadtteil Harburg holte der Kinder- und Jugendnotdienst in der vergangenen Woche die vierjährige Lea aus der völlig vermüllten Wohnung ihrer alkoholkranken und nach Zeugenangaben gewalttätigen Mutter, alarmiert durch Nachbarn. Vorwürfe werden laut gegen das Jugendamt, das nach Medienberichten trotz mehrfacher Alarmierung nicht eingeschritten sei. Das Amt weist die Vorwürfe zurück. Es habe zwölf Kontakte zu der Mutter gegeben, aber nie sei eine akute Gefährdung festgestellt worden.
Die Öffentlichkeit sei seit dem Fall Jessica merklich sensibilisiert, betont die Sozialbehörde. Ein Sprecher schreibt dies dem als Konsequenz aus dem Fall seit Jahresbeginn eingeleiteten Paket «Hamburg schützt seine Kinder» zu. Doch der Opposition und Kinderschutzeinrichtungen gehen die Maßnahmen nicht weit genug.
Dem Behördensprecher zufolge erhöhte sich die Zahl von Hinweisen auf Vernachlässigung oder Misshandlung von Kindern im Vorjahr um 4,5 Prozent auf 5697 Fälle. 2006 habe die Zahl «weiter drastisch zugenommen». Derzeit seien in Hamburg knapp 2000 Kinder in Heimen untergebracht, weitere 1250 in Pflegefamilien. Und weil der Bedarf ständig wachse, würden die diesjährigen Mittel für Hilfe zur Erziehung von 164 Millionen Euro gerade um nochmals acht Millionen Euro aufgestockt.
Die Opposition bescheinigt zwar, dass «einiges auf den Weg gebracht wurde», wie GAL-Fraktionschefin Christa Goetsch sagt. Doch wenn es um Abwehr von Kindeswohlgefährdungen gehe, existierten eklatante strukturelle Mängel. Nötig sei ein «Netzwerk Kindeswohl» mit enger Vernetzung aller Behörden und Institutionen. Die Einführung von Familienhebammen, die Risikomütter von der Schwangerschaft an ständig begleiten, sei lange nicht flächendeckend - 13 gibt es in Hamburg.
Nach Auffassung des SPD-Sozialexperten Dirk Kienscherf ist die Wiederholung von Fällen wie der von Jessica oder Lea nicht auszuschließen: «Ich kann mir vorstellen, dass so etwas jederzeit wieder passiert.» Deshalb fordert er beim Maßnahmenpaket «Hamburg schützt seine Kinder» dringend Nachbesserungen. Bislang gebe es keine verbindlichen Regelungen im Umgang mit den Eltern, Entscheidungen lägen zu sehr im Ermessen der Behördenmitarbeiter. Kienscherf fordert auch das Anlegen einer Elternakte, deren Daten mindestens 15 Jahre lang gespeichert werden. Bislang gebe es nur eine «Akte light» für zehn Jahre.
Eines der größten Probleme seien Vernachlässigung und Gewalt im Verborgenen, sagt die Psychologin Andrea Pohlenz vom Kinderschutzzentrum Harburg des Deutschen Kinderschutzbundes. Deshalb müsse im Sinne des Kindeswohls etwa bei «Multi-Problem-Familien, wo es gleich mehrfach brennt», den Behörden eine konsequentere Handhabe bei Gefahr im Verzug eingeräumt werden. «Die staatlichen Eingriffsmöglichkeiten in die Familien müssen in Deutschland grundsätzlich diskutiert werden», fügt Pohlenz hinzu.
Konkret müssen sich solche erweiterten Eingriffsmöglichkeiten nach Ansicht der Grünen etwa auf den Zwang zu Vorsorgeuntersuchungen richten, die so genannten U1- bis U9-Untersuchungen für eine lückenlose Kette von der Schwangerschaft bis zur Einschulung. «In Ländern wie den Niederlanden oder in Skandinavien ist dies sehr viel restriktiver geregelt, mit entsprechendem Erfolg», sagt Goetsch, die deshalb eine Gesetzesänderung in Deutschland fordert.
Auf eine solche Festschreibung von Vorsorgeuntersuchungen insbesondere bei Risikofamilien richtet sich eine Hamburger Bundesratsinitiative, wie der Sprecher der Gesundheitsbehörde, Hartmut Stienen, erläutert. Anfänglich schicken noch bis zu 95 Prozent der Eltern ihre Kinder zu den Untersuchungen, später «bröckelt» dies bis auf 85 Prozent ab, wie Stienen sagt. Ein direkter Zwang zu den Untersuchungen sei jedoch aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht möglich. «Wir können nur versuchen, bei den 15 Prozent Verweigerern mit entsprechenden Kampagnen die Akzeptanz zu erhöhen», sagt Stienen. Gelingt dies nicht, droht immer wieder ein Drama wie das von Jessica
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