Professor Otto Nerz, damals noch Reichstrainer genannt, war der erste von allen, der Urtyp des Bundestrainers sozusagen, der einzige ohne Vorgänger. Fiel die Auswahl und Aufstellung der elf Besten in den Gründerjahren des Verbandes noch in den Zuständigkeitsbereich des DFB-Spielausschusses, so wurde die Alleinverantwortung 1926 in seine Hand gegeben ? in die Hand eines Quer-Einsteigers, den als mäßig begabten Außenläufer des VfR Mannheim nicht gerade die filigrane Kunst im Umgang mit dem Ball auszeichnete. Aber zum Trainer fühlte er sich berufen, weshalb er zwecks Schulung von Geist und Körper außer Pädagogik auch Medizin studierte und als Dr.med. promovierte.Eine Gründlichkeit, die auf gestrenge Pedanterie hinauslief, war der Leitfaden seiner Methodik ? Zucht, Ordnung und Drill positionierte der Pauker-Typ und Sicherheits-Fanatiker an weit höherer Stelle als die unberechenbare Spontaneität des Künstlers. "Ich habe mich in einem Lehrgang bei ihm immer gefühlt wie in einer Kaserne", klagte der Münchner Siegfried Haringer, während der Schalker Ernst Kuzorra den schroffen Abschied von Nerz und der Nationalmannschaft mit einem der berühmtesten Zitate des Götz von Berlichingen besiegelte. Und Reinhold Münzenberg, einer der Größten in der Vereinsgeschichte der Aachener Alemannia, verknappte das Trainer-Thema auf einen kurzen, aussagekräftigen Satz: "Pünktlichkeit und Disziplin waren das Wichtigste, wer zu spät zum Essen kam, erhielt eine Abreibung."An der Fachkompetenz des Mannes, dem selbst von wohlwollenden Kritikern eine manchmal "eckige Barschheit" attestiert wurde, gab es jedoch nur ganz geringe Zweifel: Otto Nerz hat das sogenannte WM-Systems des Engländers Herbert Chapman übernommen, das zum taktischen Grundprinzip in aller Welt geworden war. Und in der Stuttgarter Zeitung war 1950 nach seinem Tod im sowjetischen Konzentrationslager Sachsenhausen zu lesen: "Er verfügte nicht nur über die genauste Kenntnis aller Details, sondern auch über die mitreißende Kraft der Persönlichkeit. Hätte er nur etwas mehr Charme und einen Schuss mehr Leichtigkeit besessen, dann würden noch viel mehr Menschen an persönliche Begegnungen mit ihm freudig zurückdenken."Statt dessen aber blieb die Erinnerung an Schulmeisterliches, an sture Ernsthaftigkeit, an straffe Reglementierung, die allerdings keineswegs nur negative Effekte auslösten. Denn 1934, bei der Weltmeisterschaft in Italien, dirigierte der Professor die deutsche Nationalmannschaft überraschend auf den dritten Platz, nachdem die Belgier mit 5:2 und die Schweden mit 2:1 geschlagen wurden. Den Weg ins Finale verbauten die Tschechoslowaken, die das Halbfinale in Rom mit 3:1 gewannen.Für Nerz ging mit jener Weltmeisterschafts-Endrunde ganz allmählich auch die knapp zehnjährige Dienstzeit beim DFB zur Neige. Denn nur zwei Jahre danach, kurz nach den Olympischen Spielen 1936 in Berlin, trat ein junger Mann an seine Stelle, den er selbst als seinen Musterschüler bezeichnete. Der hieß Sepp Herberger, kam gleichfalls aus Mannheim und hatte sonst vor allem eins gemein mit dem professoralen Vorgänger: Auch er, dem für die Beschaffung von Informationen noch kein Fernsehen, keine Video-Aufzeichnungen, keine Zeitlupen-Aufnahmen zur Verfügung standen, legte sich ein Notizbuch an, in dem er jeden potentiellen Kandidaten mit all seinen Schwächen und Stärken pingelig protokollierte.
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