derstandard.at/1303291245619/STANDARD-Interview-Atomkraftwerke-sind-Geldscheisser Selbst ein Atomfreund spricht jetzt so: STANDARD-Interview"Atomkraftwerke sind Geldscheißer" von Tobias Müller | 22. April 2011, 20:03Charles Perrow ist amerikanischer Risikoforscher, er erzählt, was alles sein kann, wenn die Kernenergie einen schlechten Tag hatCharles Perrow ist amerikanischer Risikoforscher. Tobias Müller sprach mit ihm darüber, was alles sein kann, wenn die Kernenergie einen schlechten Tag hat STANDARD: In Ihrem Buch "Normal Accidents" haben Sie die These entwickelt, dass Kernkraftwerke so komplexe Systeme sind, dass es in ihnen zwangsläufig zu Fehlern kommt. Mittlerweile haben sich die Reaktoren verändert. Sind neuere sicherer? Charles Perrow: Wir können leider nicht wissen, ob sie sicherer sind. Wir dachten auch Siede- und Druckwasserreaktoren seien absolut sicher, und dann haben wir eine Reihe von Problemen und Störfällen entdeckt, mit denen wir nicht gerechnet haben. Es braucht leider viel Erfahrung. Ein so komplexes System wie die Luftfahrt ist so sicher, weil wir alle Komponenten Zigmillionen Mal getestet haben. Flugzeuge heben pro Tag vier-, fünfmal ab, es sind Standarddesigns - wir haben wirklich viel Erfahrung mit ihnen. Mit Kernenergie haben wir das nicht. Weltweit gibt es gerade einmal ein paar hundert Kraftwerke, die sich alle etwas unterscheiden. Es ist möglich, Systeme zu entwerfen, die so linear und ohne enge Kopplungen funktionieren, dass ein Fehler in einem Teil nicht unerwartete Auswirkungen in einem anderen Teil hat. Ich habe aber bisher noch keine solchen Reaktoren gesehen. STANDARD: Ist es Ihrer Meinung nach also wahrscheinlich, dass es zu weiteren Unfällen wie in Fukushima kommen wird? Perrow: Ja. Es werden vielleicht keine Tsunamis schuld sein, aber der Grund wird ein anderes Ereignis sein, von dem angenommen wurde, dass es so selten ist, dass man sich darum nicht sorgen muss. Der Mann, der das Kraftwerk in Fukushima jahrelang leitete, hat erst kürzlich gesagt, dass er nie auf die Idee gekommen ist, dass ein Tsunami eine mögliche Gefahr darstellt. STANDARD: Wie kann man diesem Problem begegnen? Perrow: Was sicher hilft, wäre ein Zugang zum Risiko, der nicht Wahrscheinlichkeiten, sondern Möglichkeiten untersucht. Derzeit bauen die meisten unserer Risikoanalysen auf Wahrscheinlichkeiten auf. Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Arbeiter ein Ventil offen lässt? Wie wahrscheinlich ist es, dass eine Pumpe ausfällt? Wenn dieser Teil ausfällt, was wird dann ausfallen? Sie geben all diesen Ereignissen eine Wahrscheinlichkeit, zählen sie zusammen und bekommen eine Nummer, die zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passiert, sehr, sehr niedrig ist. Das stimmt auch so. Wenn sie aber mit Systemen arbeiten, deren Scheitern potenziell katastrophale Auswirkungen haben kann, wie etwa Kernkraftwerke, müssen sie fragen: Was passiert, wenn die Kernenergie einen wirklich schlechten Tag hat? Wie wahrscheinlich ist es, dass ein über 10 Meter hoher Tsunami auf vier direkt nebeneinander stehende Reaktoren trifft? Sehr, sehr unwahrscheinlich, aber offensichtlich möglich. Es sind genau diese kaum vorstellbaren Möglichkeiten, die wir versuchen müssen, zu berücksichtigen. Das verändert unsere Perspektive. STANDARD: Was könnten nun die Konsequenzen aus Fukushima sein? Perrow: Das Sicherste wäre, alle AKWs abzuschalten. Das werden wir aber sicher nicht tun. Der nächstbeste Schritt ist, deutlich mehr Kontrollen und Regulierungen einzuführen, die nicht von der Atomindustrie blockiert werden können. Die europäischen Kernkraftwerke sind in der Hinsicht deutlich sicherer als jene in den USA oder Japan. Wichtig sind demokratische Regierungen und ein zentralisierter Staat, wie etwa in Deutschland, Frankreich oder Schweden. Die Sowjetunion war ein stark zentralisierter Staat, aber nicht demokratisch legitimiert. Das Militär traf alle Entscheidungen für die zivile Kernkraft, welche Reaktortypen eingesetzt werden, wie sie betrieben werden sollen - die Konsequenzen kennen wir. Die US-Regierung ist demokratisch legitimiert, aber nicht stark zentralisiert. Als Konsequenz ist die Atomaufsichtsbehörde stetigem Druck ausgesetzt durch jene Senatoren, die in ihren Staaten Kernkraftwerke haben. Immer wieder hat sich die Aufsichtsbehörde dem Druck der Industrie, der durch die Senatoren kam, gebeugt und Vorschriften geändert. In Japan ist es noch schlimmer, dort gibt es nicht einmal eine Trennung zwischen jener Behörde, die die Atomkraft überwacht, und jener, die sie promotet. Tepco ist zudem der viertgrößte Energieproduzent der Welt und hat eine enorme wirtschaftliche Macht in Japan. STANDARD: In Ihrem letzten Buch plädieren Sie für "target shrinking", sprich dafür, mögliche Zielscheiben zu verkleinern, um Risiken zu minimieren. Was würde das für AKWs bedeuten? Perrow: Man baut nicht, wie die Japaner, vier Reaktorblöcke genau nebeneinander. Das ist ein Ziel für Terroristen, für Tsunamis, für Störfälle. Kommt es zu einem Unfall, riskieren Sie, aufgrund austretender Radioaktivität bei einem Reaktor an den anderen gar nicht mehr arbeiten zu können. Sie haben statt einer vier potenzielle Katastrophen nebeneinander. Die Dezentralisierung von riskanten Systemen ist daher eine ganz wichtige Empfehlung. Dazu gehört auch, AKWs nicht neben große Städte zu bauen. Die Betreiber machen das gern, weil sie bei längeren Distanzen Strom verlieren und das Geld kostet. Aber: Atomkraftwerke sind Geldscheißer, wenn sie einmal laufen. Die Kosten des Energieverlusts sind vergleichsweise minimal. Auch hier ist Europa den USA voraus: Etwa die Hälfte aller Menschen in den USA leben nur wenige Kilometer von einem Kernkraftwerk entfernt. STANDARD: Wenn man all das berücksichtigt: weniger komplexe Systeme, Dezentralisierung, größere Entfernungen zu Städten - ist Atomenergie ein Risiko, das man nehmen kann? Perrow: Die westliche Welt kann es sich nicht leisten, die Reaktoren einfach so abzuschalten. Sie liefern etwa 20 Prozent ihres Stroms, damit müssen wir derzeit leben. Aber: Viele dieser Kraftwerke sind sehr alt und werden immer unsicherer, etwa, weil das Material der Druckkammern altert. Wir sollten damit beginnen, sie so schnell wie möglich abzuschalten, die ältesten zuerst. Gleichzeitig müssen wir Wege finden, Energie zu produzieren und zu sparen. Die meiner Meinung nach derzeit vielversprechendste Technologie ist CO2-Abscheidung und -Speicherung. Damit könnten wir den CO2-Ausstoß von Kohlekraftwerken um 90 Prozent reduzieren und die Kohlekraft ausbauen. STANDARD: CO2-Abscheidung und Speicherung ist weit davon entfernt, einsatzfähig zu sein. Lohnt sich das? Perrow: Es wird massive Förderungen für diese Technologe brauchen, sie wird enorm teuer werden - mindestens so teuer, wie Atomkraftwerke. Gleichzeitig hat sie den Nachteil, dass weiterhin ein fossiler Brennstoff benutzt werden wird. Das bringt seine eigenen Probleme und Risiken, von der Förderung über den Transport. Aber: Erstens ist auch die Atomkraft nicht emissionsneutral, sie müssen auch Uran abbauen und transportieren, außerdem ist der Bau eines AKWs nicht unbedingt umweltfreundlich. Das Wichtigste ist aber: Ein Kohlekraftwerk, und sei es auch noch so groß, kann nicht tausende Menschen umbringen. (Tobias Müller, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23./24./25.4.2011) CHARLES PERROW (86) ist Professor Emeritus für Soziologie an der Yale University. Bis April 2011 ist er Visiting Professor am Center for International Security and Cooperation der Stanford University. Er hat das US-Militär, das Weiße Haus und die Atomindustrie beraten. Perrow gilt als einer der wichtigsten Theroretiker des Risikos. Seine Untersuchung der Kernschmelze im US-Reaktor Three Mile Island verarbeitete er in dem Buch "The Normal Accident - Living with High Risk Technologies." Seine These: Sind Systeme ausreichend komplex und eng gekoppelt, kommt es in ihnen unvermeidbar zu Fehlern, die unabschätzbare Konsequenzen haben können.
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