n der Krise bleibt vieles auf der Strecke, zuweilen auch die Wahrheit. So hat Kenneth Lewis, der Chef der Bank of America, seinen Aktionären etliche Probleme verschwiegen, als er im Herbst die angeschlagene Investmentbank Merrill Lynch erwarb. Er tat dies aber im Dienste des Vaterlandes, genauer: weil US-Notenbankchef Ben Bernanke und der damalige Finanzminister Henry Paulson es wollten. Dies ergibt sich aus Aussagen, die Lewis im Februar bei der Staatsanwaltschaft New York machte, und deren Protokoll jetzt dem Wall Street Journal zugespielt wurde.
Die Geschichte beginnt am 15. September 2008, einem Montag. Am Wochenende zuvor hatte sich die Welt verändert. Die viertgrößte US-Investmentbank Lehman Brothers war zusammengebrochen, die zweitgrößte, Merrill Lynch, konnte nur noch durch einen Notverkauf an die Bank of America (BoA) gerettet werden. Kenneth Lewis bot 50 Milliarden Dollar in Aktien für das einst berühmte Institut und galt damit als einer der Retter des Finanzsystems. Aber dann zeigte sich, dass die Lage Merrills noch viel schlechter war als vermutet. Allein im vierten Quartal waren Verluste von 15,3 Milliarden Dollar aufgelaufen.
Bank of America war nun selbst auf Kapitalhilfe aus Washington angewiesen. Dann wurde auch noch bekannt, dass Merrill seinen Mitarbeitern kurz vor Abschluss des Deals mit BoA 3,6 Milliarden Dollar an Boni genehmigt hatte. Der Generalstaatsanwalt von New York, Andrew Cuomo, begann zu ermitteln. Dabei ging es auch darum, ob Lewis seine Aktionäre hinters Licht geführt hatte. Die hatten dem Kauf von Merrill am 5. Dezember zugestimmt; hätten sie damals schon von den Verlusten gewusst, hätten sie noch "nein" sagen können.
Lewis hatte schon früher angedeutet, dass er selbst einen Ausstieg aus dem Geschäft erwogen hatte, aber von der Regierung bedrängt worden war, bei der Stange zu bleiben. Nun ist der Bankchef konkreter geworden. Was er den Staatsanwälten im Februar unter Eid sagte, lässt nur einen Schluss zu: Paulson und Bernanke haben ihn zwar nicht direkt gezwungen, die Aktionäre anzulügen. Aber sie legten ihm doch nahe, den größten Teil der Wahrheit für sich zu behalten. Nach Darstellung des Wall Street Journal fragte ein Ermittler zum Beispiel: "Waren (die Verluste bei Merrill) nicht etwas, das Ihre Aktionäre gerne gewusst hätten?" Worauf Lewis entgegnete, Bernanke und Paulson hätten ihm klargemacht, dass der Deal abgeschlossen werden musste, weil sonst ein "hohes Risiko für das gesamte Finanzsystem der Vereinigten Staaten" entstanden wäre. Der Ermittler hakte nach: "Wurden Sie angewiesen, den Aktionären nicht zu sagen, wie die Transaktion aussehen würde?" Antwort: "Mir wurde gesagt: Wir wollen keine Veröffentlichung"." Frage: "Wer sagte das?" Antwort: "Paulson". Frage: "Lag es bei Ihnen, über eine Veröffentlichung zu entscheiden?" Antwort: "Es lag nicht in meiner Hand".
Bis jetzt gibt es keine offizielle Bestätigung für den Bericht, aber er ist glaubwürdig. Vor allem ist, sollte er zutreffen, niemandem ein Vorwurf zu machen, weder Lewis, noch Bernanke oder Paulson. Ein Scheitern des Deals und ein Zusammenbruch von Merrill wäre eine Katastrophe für das Weltfinanzsystem gewesen. Die drei haben der Welt mit ihrem instrumentellen Verhältnis zur Wahrheit einen Dienst erwiesen. Aber natürlich haben sie den BoA-Aktionären geschadet.
Ein aufrechter Patriot
Das Ganze hat auch eine persönliche Komponente. Ken Lewis, 62, war in seiner Karriere immer das Gegenmodell zum Typ des Wall-Street-Bankers. Er kommt aus der Provinz und machte daraus auch kein Hehl. Aufgewachsen in Mississippi, hat er sich bis heute seinen starken Südstaaten-Akzent bewahrt. Seine Karriere startete er 1969 als Analyst bei der kleinen North Carolina National Bank in Charlotte. Die NCNB verließ er nie, sondern begleitete deren Aufstieg von einer obskuren Sparkasse zu einer der größten Banken der USA. 1998 erwarb das Institut die bis dahin kalifornische Bank of America und übernahm deren Titel, 2001 wurde Lewis Chef.
Zunächst sah es sogar aus, als könne Bank of America zu den großen Gewinnern der Finanzkrise werden. Im Januar 2008 erwarb sie den angeschlagenen Hypothekenfinanzierer Countrywide und wurde so auf einen Schlag zu einem der größten Mitspieler auf dem Markt für Hauskredite. Der Kauf hatte aber auch eine patriotische Komponente, denn ohne ihn wäre Countrywide vermutlich pleite gewesen. Kurz danach wählte ein Fachmagazin Lewis zum "Banker des Jahres". Dann kam Merrill, und der Provinz-Banker Lewis war plötzlich tief in das Scheitern der Wall Street involviert; Investoren forderten sogar schon seinen Rücktritt. Lewis hätte also alle Motive der Welt, etwas zu tun, um seinen guten Ruf wiederherzustellen.
Der Vorgang zeigt vor allem eines: Wenn der Staat gezwungen ist, den gesamten Banksektor zu retten, dann sind die Rechte der Aktionäre nur noch relativ. Ob es zu einer regelrechten Verstaatlichung kommt oder nicht, ist dann nur noch eine technische Frage.
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