HINTERGRUND-Deutsche Industrie unter Druck - Sozialpartnerschaft in der Krise?
Freitag, 06.09.2024 17:47 Quelle: reuters.com Unternehmen wollen in Notlage stärker durchgreifen Gewerkschaften sehen Tabubruch der Konzernführungen Ampel will Tarifbindung ausweiten Rettung der Meyer Werft gilt Politik als Vorbild - von Andreas Rinke Berlin, 06. Sep (Reuters) - BASF , Thyssenkrupp , Volkswagen - die Krisen-Botschaften deutscher Industriekonzerne häufen sich. Und es knallt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, weil die Vorstände radikale Sanierungsvorschläge ohne Absprachen mit dem Betriebsrat machen. VW-Betriebsratschefin Daniela Cavallo spricht von Tabubruch, die Manager von außergewöhnlichen Notlagen. Steht das eher konsensorientierte Mitbestimmungsmodell der deutschen Wirtschaft - bei dem die Unternehmensführung versucht, weitgehend im Einklang mit den Beschäftigten zu agieren - auf der Kippe? Im Hintergrund schrillen die Alarmglocken so laut, dass dies am Donnerstag sogar Thema bei den internen Beratungen der SPD-Bundestagsfraktion im brandenburgischen Groß Behnitz wurde. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich forderte offen ein Eingreifen des Staates bei Firmen-Sanierungen wie zuletzt bei der Meyer Werft.
SORGE VOR AUSBLUTEN DER INDUSTRIE - TEURE ENERGIE Seit Monaten kritisiert die Union, dass sich Deutschland auf dem Weg in Richtung einer "De-Industrialisierung" befinde - und macht dafür die Ampel-Politik verantwortlich. "Die Lage ist prekär", sagte CDU-Chef Friedrich Merz am Freitag. Kanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck erklären die Probleme unter anderem mit der gigantischen Subventionsmaschine, die sowohl China als auch die USA für ihre Industrien angeworfen hätten. Dass die deutsche Industrie, die 2023 noch 20,4 Prozent der Wertschöpfung ausmachte, in einer echten Krise steckt, ist unumstritten. "Wir müssen aufpassen, dass da industriepolitisch nichts ins Rutschen kommt - auch wenn es bei Thyssen, VW viel um interne Probleme geht", heißt es in Koalitionskreisen. "Alles, was an Industrieproduktion weggeht, wird nicht mehr zurückkommen." Im Klartext: Wo keine Firmen mehr sind, gibt es auch keine deutsche Mitbestimmung mehr.
Das Problem: Die Ampel ist sich nicht einig, was zu tun ist.
FDP-Chef Christian Lindner will lieber Steuern senken als beim Subventionswettlauf mitmachen. SPD und Grüne plädieren für staatliche Unterstützung - Förderung der Neuansiedlung von Fabriken in strategisch wichtigen Bereichen wie Chips oder Batterien, Subventionen für den klimafreundlichen Umbau und notfalls die Rettung bedrohter Jobs.
"Die Probleme in der deutschen Industrie sind sehr gravierend", sagt Niedersachsens Wirtschaftsminister Olaf Lies zu Reuters. Er sieht durchaus eine Mitverantwortung der Ampel. Die Bundesregierung tue zwar viel für die Zukunftsfähigkeit, etwa durch den Aufbau einer Wasserstoff-Infrastruktur. Aber bei vielen Unternehmen hapere es an der Wettbewerbsfähigkeit und der Marktentwicklung. "Die Strompreise sind zu hoch. Das macht den Unternehmen quer durch alle Branchen, aber besonders auch der Stahlbranche sehr zu schaffen", kritisiert er. SPD-Fraktionschef Mützenich beklagt, dass die Regierung den von Wirtschaft, Gewerkschaften, SPD und Grünen geforderten Industriestrompreis abgelehnt habe.
SOZIALPARTNERSCHAFT SCHON LÄNGER UNTER DRUCK In der Not suchen einige Konzernleitungen harte Auswege, mit dabei einige der bekanntesten Industrie-Ikonen Deutschlands: Thyssenkrupp-Chef Miquel Lopez hat im Streit um die Zukunft der Stahlsparte die Beschäftigten so vor den Kopf gestoßen, dass das Management des Geschäftsbereichs hinwarf. Volkswagen erwägt Werksschließungen in Deutschland, ein Novum in der Firmengeschichte. Der Chemieriese BASF räumt im Ludwigshafener Stammwerk auf und prüft die Schließung weiterer Anlagen. "Standortschließungen oder betriebsbedingte Kündigungen wären gerade in der aktuellen Zeit definitiv das falsche Signal", kontert die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken zu Reuters.
Allerdings ist das Problem größer: Die deutsche Sozialpartnerschaft ist schon seit geraumer Zeit unter Druck. In Ostdeutschland ist die Tarifbindung deutlich geringer als im Westen, sie nimmt aber überall ab: Laut Statistischem Bundesamt arbeiteten im vergangenen Jahr 56 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten ohne einen Tarifvertrag. Nach Ansicht der Regierung erklärt dies die bis heute deutlich niedrigeren Durchschnittslöhne im Osten.
Einige amerikanische und chinesische Firmen wollen sich zudem bei ihrem Einstieg in den deutschen Markt erst gar nicht der deutschen sozialpartnerschaftlichen Tradition unterwerfen.
Zwei Beispiele: Der Autokonzern Tesla wehrte sich lange gegen gewerkschaftlich dominierte Betriebsräte. Bei dem im chinesischen Besitz befindlichen Schrott-Recycler SRW Metalfloat GmbH im sächsischen Espenhain versuchten Beschäftigte mit einem 180-tägigen Streik vergeblich, einen Tarifvertrag zu erzwingen.
POLITIK SCHLÄGT ZURÜCK Die Ampel-Regierung steuert dagegen und hat sich vor dem Ende der Legislaturperiode noch das Tariftreuegesetz auf die Fahnen geschrieben: Künftig sollen öffentliche Aufträge nur noch an Unternehmen gehen, die einen Tarifvertrag vorweisen können.
In der Folge würde dies auch Betriebsräte und gewerkschaftliche Vertretungen fördern. Auch bei der Unterstützung von Unternehmen spielen diese Themen eine Rolle: Bei der Rettung der Meyer Werft musste sich das Unternehmen im Gegenzug für die Hilfe des Staates dazu verpflichten, den Firmensitz von Luxemburg wieder nach Deutschland zu verlegen, wo die Arbeitnehmer mehr Mitbestimmungsrechte haben.
Niedersachsens Wirtschaftsminister Lies ist deshalb optimistisch: Die deutsche Sozialpartnerschaft bleibe ein Erfolgsmodell, weil man eben auch in schwierigen Zeiten ohne schwere Konflikte Lösungen finde. Daran müssten die Firmen wegen des Fachkräftemangels ein Eigeninteresse haben, sagt die SPD-Co-Chefin Esken. "Wer nachhaltigen Erfolg für sein Unternehmen organisieren will, muss gut aus- und stetig weitergebildete, leistungsbereite Beschäftigte als das wertvolle und bedeutende Asset des Unternehmens betrachten und behandeln, das sie sind."
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