Latenter Antisemitismus
Kein Begriff ist in der Beschreibung des Antisemitismus seit 1945 so häufig gebraucht und doch nie richtig geklärt worden wie der des ?latenten Antisemitismus?. Er wird seit Mitte der 50er Jahre benutzt (Pross 1956) und reflektiert eine neue Erscheinungsweise des Antisemitismus, die sich von dem offenen, politisch instrumentalisierten Gebrauch der vorherigen Jahrzehnte unterscheidet. Harry Pross und andere beobachteten das Verschwinden des Antisemitismus aus der Öffentlichkeit, stellten aber sein Fortleben in der privaten Meinung fest. Hier wurde der Begriff der Latenz auf der Ebene des Sozialsystems angesiedelt und meinte den Ausschluß bestimmter Themen und Anschauungen aus der öffentlichen Kommunikation. Sehr viel öfter aber wird der Latenzbegriff im Sinne von unbekannt, unbewußt oder verdrängt benutzt Damit soll angedeutet werden, daß viele Menschen von sich gar nicht wüßten, daß sie antijüdisch eingestellt sind und daß die relative Beruhigung auf der gesellschaftlichen Oberfläche über das wahre Ausmaß an Antisemitismus hinwegtäuschte. Die Tabuisierung des Antisemitismus in der Öffentlichkeit hat in dieser Sicht keinen Rückgang der antijüdischen Einstellung in der Bevölkerung bewirkt, diese bestehe vielmehr in Form latenter Dispositionen weiter. Folgt man dieser These, dann ist eine realistische Schätzung der Verbreitung von Antisemitismus in der Bevölkerung kaum möglich, da empirische Forschung schwer an latente psychische Inhalte herankommen kann, von denen die Befragten ja selbst nichts wissen sollen ? es sei denn auf dem Wege einer bevölkerungsweiten Tiefenanalyse. Von dieser Position her, die sich selbst gegen eine empirische Widerlegung immunisiert hat (vgl. zu dieser Strategie Luhmann/Fuchs 1989, S. 178ff.), stellen Meinungsbefragungen ein völlig unzureichendes Instrument dar, um das wahre Ausmaß des latenten Antisemitismus zu erfassen.
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