Gaskrise
Drehen wir den Spieß doch um ? und öffnen Nord Stream 2
Eine Kolumne von Nikolaus Blome
Die Bundesregierung hält die eine Gaspipeline geschlossen und bettelt bei Putin zugleich darum, dass durch die andere mehr fließen möge. Das ist unwürdig, widersprüchlich und nutzt nur dem Kreml.
15.08.2022, 12.35 Uhr
Wer ist eigentlich noch für die Öffnung von Nord Stream 2? Gerhard Schröder und Wladimir Putin sind dabei, na klar. Natürlich auch die Chrupallas und Wagenknechts am Narrensaum der Republik: Sie würden Putin am liebsten gleich die Stiefel lecken. Das ist alles ziemlich durchschaubar und darum eigentlich egal, aber ist die Sache an sich damit erledigt? Ich fürchte nein.
Was passiert nämlich, wenn der nächste Winter hart und das Gas am Ende knapp wird, und Wladimir Putin eines Morgens sagt: »Nord Stream 1 ist jetzt leider ganz kaputt, aber Ihr könnt Gas aus Nord Stream 2 haben«?
Eine schamlose Lügerei wäre das, keine Frage, ein ruchloses Schurkenstück. Aber das allein enthöbe die Bundesregierung ja nicht der Not zu reagieren. Wird die Antwort der Bundesregierung also lauten: Aus Nord Stream 1 würden wir das Gas nehmen, aber aus Nord Stream 2 nehmen wir es nicht? Schon jetzt, im Hochsommer, hätten 66 Prozent der Deutschen laut einer Forsa-Umfrage keine Probleme mit dem Gas aus Nord Stream 2. Und auch im Kanzleramt wissen sie: Bei einem akuten Engpass russisches Gas abzulehnen, nur weil es aus der »falschen« Pipeline kommt ? das wird sehr schwer. Trotzdem sagte ein Regierungssprecher jüngst, Nord Stream 2 bleibe definitiv zu, einen Sinneswandel »schließt der Kanzler aus«. Aber ist das klug?
Vertraglich vereinbart ist der sanktionsfreie Bezug einer wesentlich größeren Gasmenge, als sie derzeit (durch Nord Stream 1) fließt. Käme aus Nord Stream 1 mehr russisches Gas als jetzt, wir würden es selbstverständlich nehmen. Nicht umsonst stellt sich der Bundeskanzler vor eine Siemens-Turbine und drängt auf ihren Einsatz, um die schuldhaft von Russland verminderten Liefermengen wieder zu erhöhen. Sollte der Kanzler auf diesem Weg mehr russisches Gas in die hiesigen Speicher holen, hätte er sich durchgesetzt. Aber wenn es aus Nord Stream 2 in dieselben Speicher flösse, soll sich stattdessen Putin durchgesetzt haben? Hmmm.
Die Sanktionen gegen Nord Stream 2 sollten ursprünglich Putins Gasabsatz schmälern, aber offenkundig nicht auf das derzeitige, sehr niedrige Niveau. Denn sonst dürfte Deutschland ja nicht um mehr davon bitten und es auch nehmen. Ferner sollten die lang geforderten Sanktionen verhindern, dass Deutschlands Abhängigkeit von russischem Gas weiter wächst. So sehr dieser Punkt zur Schande der deutschen Politik (und vieler Medien) berechtigt war, inzwischen hat er sich erledigt. Man kann eine 55-prozentige Abhängigkeit von russischen Gasimporten zwar nicht von jetzt auf gleich beenden, aber Deutschland will nachweislich so schnell wie möglich weg vom russischen Gas und hat die Abhängigkeit bereits um rund 20 Prozentpunkte gesenkt. Kann man also noch sagen, dass es dem Geist der Sanktionen widerspricht, Nord Stream 2 notfalls zu öffnen?
Es bleibt das Argument, man dürfe Putins politischer Erpressung keinesfalls nachgeben. Der Westen müsse hart bleiben, die zweite Röhre gesperrt halten, weil man andernfalls alle moralische Glaubwürdigkeit verlöre. Nord Stream 2 offen, das wäre ein »Triumph« für Putin, heißt es. Allein: Nicht die Wahl der Röhre ist in meinen Augen das moralisch Verwerfliche, sondern überhaupt russisches Gas zu kaufen und Putins Kriegskasse zu füllen. Die »Erpressung« bei der Wahl der Röhren ist ein Framing, das sich aus einer längst überholten Konstellation ergab, als die Öffnung von Nord Stream 2 bedeutet hätte, die russischen Gasimporte noch weiter zu steigern. Davon kann keine Rede mehr sein. Ist das also eine Frage der Ehre oder doch eher Komplex-Kompensation, beim Unwichtigen hart zu bleiben, wenn man beim Wichtigen schwach ist? Das wahre Ziel ist erst erreicht, wenn wir keine nennenswerte Menge russischen Gases mehr importieren. Das Ziel ist nicht erreicht, wenn wir die eine Pipeline sperren und zugleich betteln, dass durch die andere mehr fließen möge. Das ist unwürdig, widersprüchlich und nutzlos.
Noch einmal: Wenn das Veto gegen Nord Stream 2 den völligen Importstopp von russischem Gas beschleunigt, bin ich ohne Wenn und Aber dabei. Aber dem ist nicht so. Stattdessen ließe sich auch bei einer befristeten Öffnung sicherstellen und allen Skeptikern garantieren, dass die maximale Geschwindigkeit bei der Abkehr von fossiler Energie aus Russland gewahrt bleibt. Deutschland müsste weiter zu jedem Preis international Gas einkaufen und Robert Habeck noch einen Knicks in Qatar machen. Das alternative Versorgungssystem müsste weiter so durchgepaukt werden wie die 26 Kilometer Pipeline zum Flüssiggas-Terminal vor Wilhelmshaven ? auch wenn die Deutsche Umwelthilfe wegen kopulierender Schweinswalpärchen klagen sollte.
Die Frage lautet: Was wäre verloren, wenn die Bundesregierung den Spieß umdrehte und sich bereits jetzt bei Nord Stream 2 lockerer machte ? und zwar öffentlich und ohne auf den Moment zu warten, den Putin böswillig für uns aussucht? Antwort: Der Bundesregierung gelänge eine sinnvolle Frontbegradigung im Wirtschaftskrieg mit Russland. Sie brächte 19 Millionen Haushalten und zahllosen Unternehmen möglicherweise mehr der gewünschten und vereinbarten Gaslieferungen. Vor allem aber wäre Putin ein Hebel aus der Hand genommen, mit dem er uns durch den Winter zu treiben hofft. Und alles dank des einen Gedankens: Gas ist Gas.
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/...-4457-aee0-ceceee6796cc
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