Fortschritte in Richtung Marktwirtschaft
Noch kann China mangels eines funktionierenden Rechtsstaats sowie wegen weitreichender Interventionen von Partei und Staat in den Wirtschaftsgang für sich nicht glaubwürdig behaupten, eine Marktwirtschaft zu sein. Doch ist die Zahl der wirtschaftspolitisch relevanten Entscheidungsträger stark gewachsen.
us. Peking
Niemand wird behaupten wollen, es gebe im Reich der Mitte wirtschaftspolitische Debatten mit dem Meinungspluralismus und der Offenheit, wie man sie in westlichen Industriestaaten gewohnt ist. Doch längst vergangen sind auch die Tage, da weltfremde Bürokraten und sture Parteikader fernab der realen Welt der Untertanen selbstherrlich weitreichende Kurswechsel beschliessen konnten. Noch immer aber ist das politische Schicksal Chinas höchst ungewiss, und die Optionen, die bei Risikoanalysen sinnvollerweise in Betracht gezogen werden müssen, weisen eine viel grössere Bandbreite aus, als man sie von demokratischen Rechtsstaaten her kennt.
Divergierende Interessen
Im wirtschaftspolitischen Bereich ist jedoch, sieht man von einem selbstmörderischen und deshalb höchst unwahrscheinlichen Rückfall in den maoistischen Steinzeit-Kommunismus ab, die Bewegungsfreiheit selbst der höchsten Partei- und Regierungsspitzen in Peking durch die umfassende Modernisierung der Wirtschaft und der urbanen Gesellschaft stark reduziert worden. Dabei geht es nicht mehr nur darum, dass man den Sicherheits- und Berechenbarkeitswünschen der ausländischen Investoren und dem Gang der Weltwirtschaft Rechnung tragen muss. Inzwischen sind auch mehrere hundert Millionen Chinesen zu veritablen Stakeholdern geworden. Wirtschaftspolitische Fehlentscheide würden heute so viele Menschen in Mitleidenschaft ziehen, dass der ohnehin bereits fragile soziale Friede völlig zusammenbrechen müsste. Bei der Plenarversammlung des Zentralkomitees (ZK) der Kommunistischen Partei sind im Frühherbst die Vorgaben für den 2006 beginnenden neuen Fünfjahreplan verabschiedet worden. Formell werden die Beschlüsse im kommenden Frühjahr an der Session des Nationalen Volkskongresses noch offiziell verabschiedet werden müssen. Es ist kaum zu erwarten, dass substanzielle Kursänderungen beschlossen werden. Wichtiger ist, dass im Grunde genommen vom ZK bereits anerkannt worden ist, dass die traditionell rigiden Fünfjahrepläne der kommunistischen Planwirtschaft eine Sache der Vergangenheit sind; heute handelt es sich eher um Richtlinien. Wie könnte die chinesische Führung glaubwürdig einen verbindlichen Fünfjahreplan formulieren, wenn es dabei nicht nur die Unwägbarkeiten zu berücksichtigen gilt, die sich aus Chinas weltwirtschaftlicher Vernetzung ergeben, sondern wenn auch den unzähligen privaten Wirtschaftsakteuren mit ihren sehr stark divergierenden Interessen Rechnung zu tragen ist? Einleuchten dürfte dies beispielsweise im Immobiliensektor, der vor allem in den grossstädtischen Agglomerationen als Wirtschaftsfaktor in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen hat. Wer könnte sich denn anmassen, im Herbst 2005 festzulegen, wie sich die Immobilienmärkte im Herbst 2007 zu verhalten haben?
Starke Begehrlichkeiten
Noch fehlen China die Mechanismen, glaubwürdig unterschiedlichen politischen Interessen und Meinungen Ausdruck zu geben. Die Fassade der politischen Eintracht gehört nach wie vor zu den Mythen der KP-Herrschaft. Demgegenüber gibt es in der realen Wirtschaft immer deutlichere und potenziell auch gefährliche Interessengegensätze. Allein schon die Tatsache, dass Hu Jintao die Entwicklung einer harmonischen Gesellschaft zum Hauptziel erklärt hat, deutet auf die mehr oder weniger unterschwellig bestehenden sozio- ökonomischen Spannungen hin. Von höchster Stelle ist mit dem «Go West»-Programm, das eine Prioritätenverlagerung der staatlichen Wirtschaftsförderung von den inzwischen reich gewordenen Küstenregionen in das vernachlässigte und unterentwickelte westliche China anstrebt, eine neue Kursrichtung vorgegeben worden.
Fraglich ist allerdings, ob die erfolgreichen Provinzen dies einfach hinnehmen werden. Wie nicht zuletzt auch die Entwicklung des Lohns für qualifizierte Arbeitskräfte etwa in der Grossregion Schanghai zeigt, sind hier Begehrlichkeiten geschaffen worden, die sich nicht einfach auf Pekinger Geheiss wieder eliminieren lassen. Die reichen Provinzen wollen beim jetzigen Besitzstand nicht stehen bleiben, sondern streben nach Höherem und wehren sich gegen staatliche Umverteilungsaktionen. Schon seit langem ist Pekings Anordnungen in den Provinzen nicht automatische Gefolgschaft sicher. Die stark unterschiedliche Entwicklung des Landes schafft stets neue Interessengegensätze. Zu den Akteuren mit grossem Einfluss auf Chinas Wirtschaftspolitik werden deshalb in Zukunft noch verstärkt die Provinzchefs gehören, und zwar vor allem in jenen Regionen, die wie Guangdong oder Schanghai viel zum BIP und zum nationalen Steueraufkommen beitragen.
Haupttriebkraft von Chinas Modernisierung ist die Privatwirtschaft. Deren Anteil ist im Lauf des Reformprozesses stetig gestiegen, wobei allerdings in strategischen Bereichen der Staat noch immer der dominante Besitzer ist. Dass der private Sektor nicht rascher gewachsen ist, hat vor allem auch mit der Kreditvergabepolitik der staatlichen Banken zu tun. Blickt man in deren häufig von faulen Krediten dominierte Portefeuilles, ist leicht zu erkennen, dass die Staatsbetriebe zu den Hauptkreditnehmern gehörten und noch immer gehören. Vor diesem Hintergrund ist die Öffnung des Bankensektors für ausländische Beteiligungen nicht nur von Bedeutung für den Finanzbereich, sondern für die gesamte Volkswirtschaft. Es ist zu erwarten, dass die in Gang kommende Modernisierung der grossen Geschäftsbanken auch bei der Kreditvergabe neue Akzente setzen wird und dass dabei die Privatwirtschaft zu den Begünstigten gehören dürfte.
Gefährlicher Ritt auf dem Tiger
Blickt man darüber hinaus auf die Bemühungen um die Belebung der Aktienmärkte sowie auf die schrittweise erfolgende, vorerst noch allzu zaghafte Liberalisierung der Währungspolitik, so ist unschwer zu erkennen, dass die aufgeklärten Elemente in Chinas Führungsetage sich dazu entschlossen haben, die wirtschaftspolitische Rolle Pekings immer deutlicher auf die Makro-Steuerung zu fokussieren. Längst vergangen sind die Zeiten, da in einer Amtsstube in der Kapitale festgelegt wurde, wie viele Paar Schuhe in der Volksrepublik produziert werden sollen. Vergangen sind auch die Zeiten, da die nationalen Ministerien sich und anderen glauben machen konnten, sie hätten die Richtung, in welche die konjunkturelle Entwicklung gehe, noch im Griff.
Man braucht nur die häufig auch mit monumentalen Fehlinvestitionen bestückten Skylines und Industrieparks draussen im Land zu sehen, um zu erkennen, dass die gouvernementalen Planer schon seit langem einen Tiger reiten, den sie nicht mehr zähmen können, und nur darauf hoffen können, nicht abgeworfen zu werden. Nicht zuletzt auch bei der Spekulation auf den künftigen Wert der chinesischen Währung sind inzwischen so viele Dinge in Bewegung gekommen, dass Stellungnahmen aus der Führungsetage der Notenbank eine wachsende Sensibilität für die Märkte und deren spezifische Motive und Reaktionen erkennen lassen. Ein vor kurzem veröffentlichtes Weissbuch zur «chinesischen Demokratie» hat zwar erneut den uneingeschränkten Herrschaftsanspruch der KP bekräftigt. Die wirtschaftliche Realität im Land hat sich diesem Anspruch aber schon längst entzogen, auch oder vielleicht gerade darum, weil die Partei und ihre Kader vom grösser werdenden Kuchen der Wirtschaft üppig leben und profitieren können.